Vergessen, verdrängt, gefeiert: Das Kunsthistorische Museum in Wien zeigt die bisher umfangreichste Ausstellung zur flämischen Barockmalerin Michaelina Wautier (um 1614–1689) – eine der wichtigsten Wiederentdeckungen der jüngeren Kunstgeschichte. Sie steht in der Nachfolge von Rubens und Van Dyck und wird zurecht für ihre brillante Pinselführung, ihre Vielseitigkeit, die Breite an verschiedenen Bildthemen und das für eine Malerin ihrer Zeit beeindruckende Selbstbewusstsein, mit dem sie männliche Körper und deren Anatomie wiedergab, gefeiert. In Wien werden nun zum ersten Mal fast alle erhaltenen Werke Wautiers gezeigt, darunter Gemälde, die erstmals öffentlich zu sehen sind.
Abb. oben: Der Triumph des Bacchus, Michaelina Wautier, 1655/59 , Öl auf Leinwand, 271,5 × 355,5 cm, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie, © KHM-Museumsverband.
Ein ungewöhnlicher Fall für die Kunstgeschichte
Michaelina Wautier war eine Ausnahmekünstlerin des 17. Jahrhunderts. Dennoch wurde ihr Werk jahrhundertelang verkannt, vergessen oder männlichen Kollegen zugeschrieben. In einer Zeit, in der sich Künstlerinnen vorwiegend mit Stillleben- oder Genremalerei beschäftigten, reüssierte Wautier selbstbewusst auch mit anspruchsvoller Historienmalerei. Ihr monumentaler Triumph des Bacchus etwa wurde bis in die 1960er Jahre irrtümlich Rubens-Schülern oder gar Luca Giordano zugeschrieben – zu groß, zu stark, zu viel nackter männlicher Körper, als dass das Bild von einer Frau stammen könne, hatten diese doch in der Regel keinen Zugang zu Kunstunterricht, in dem Aktzeichnen gelehrt wurde. Heute gilt das Werk als Ikone und ist ein Herzstück der Gemäldegalerie im Kunsthistorischen Museum. Auch Wautiers Porträts, Altargemälde und Allegorien sprengen nicht nur die Erwartungen an Künstlerinnen ihrer Zeit, sondern zeugen ebenso von außergewöhnlicher Originalität, feinsinnigem Humor und bemerkenswertem Mut.

Kunstgeschichte als Erkenntnisreise
Wautiers Leben bleibt in weiten Teilen ein Rätsel. Vermutlich in eine gebildete und finanziell unabhängige Familie aus Mons geboren, lebte die Malerin in einer Zeit politischer Unruhen und gesellschaftlicher Begrenzungen für Frauen. Ohne die Möglichkeit einer formellen Ausbildung, ohne den Rückhalt einer bekannten Künstlerfamilie, gelang ihr dennoch der Zugang zu den intellektuellen und künstlerischen Kreisen am habsburgischen Hof in Brüssel. Dort lebte sie gemeinsam mit ihrem älteren Bruder Charles Wautier, der ebenfalls als Maler tätig war. Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Geschwister auch die Werkstatt teilten, eine Zusammenarbeit, wie z.B. bei Großformaten, bleibt Gegenstand der Forschung. Dass sie nie heiratete, war möglicherweise eine bewusste Entscheidung – für die Kunst.
„Wir haben zwar kaum biografische Daten, Urkunden oder Briefe, aber ihre Bilder. Das genügt, um eine der stärksten Künstlerinnen ihrer Zeit wieder sichtbar zu machen“, sagt Kuratorin Gerlinde Gruber.
Der in Brüssel herrschende Habsburger Stadthalter und große Kunstsammler Erzherzog Leopold Wilhelm sammelte ihre Werke. Dennoch gibt es keinerlei zeitgenössische Kommentare über ihre Kunst. Es existieren weder Briefe noch andere eigenhändig verfasste Dokumente. Was wir über Michaelina Wautier wissen, erfahren wir fast ausschließlich aus ihren Gemälden – und aus ihren Signaturen. Anders als viele Künstlerinnen ihrer Zeit, signierte sie mit vollem Namen: Michaelina Wautier – nicht Michelle, sondern in lateinischer Form – womit sie nicht nur ihre Bildung, sondern auch ihre Eigenständigkeit betont haben könnte. Bei zwei ihrer Werke geht sie noch weiter: Mit der seltenen Signatur „invenit et fecit“ – „erdacht und ausgeführt“ – widerspricht sie aktiv dem damaligen Vorurteil, Frauen fehle es an schöpferischer Vorstellungskraft.
Michaelina Wautiers Werk steht exemplarisch für viele Künstlerinnen, deren Leistungen über Jahrhunderte hinweg ignoriert wurden.
Größte Werkschau in Wien
Die Ausstellung entstand in Kooperation mit der Royal Academy of Arts in London. Sie macht Wautiers außergewöhnliche Kunstfertigkeit und die künstlerische Qualität ihrer Bilder erfahrbar. Mit 29 Gemälden, einer signierten Zeichnung und einer Druckgrafik nach einem verlorenen Werk zeigt das Kunsthistorische Museum die bislang umfassendste Präsentation der Künstlerin. Ihre Werke werden in einen Dialog mit der Antike, Rubens, Van Dyck und anderen Meistern ihrer Zeit gestellt und neu verortet.
Insgesamt versammelt die Schau rund 80 hochkarätige Werke und Realia. Dank Erzherzog Leopold Wilhelms Sammeltätigkeit besitzt das Kunsthistorische Museum den weltweit größten musealen Bestand an Wautiers Gemälden. Dazu zählen neben dem Triumph des Bacchus die Gemälde Hl. Joachim lesend, Hl. Joseph und Hl. Joachim. Sie werden von Leihgaben bedeutender österreichischer und internationaler Institutionen sowie Privatsammlungen begleitet.

um 1655, Öl auf Leinwand, 89,7 × 122 cm, Fotograf: Rik Klein Gotink, Königliches Museum für Schöne Künste Antwerpen – Flämische Gemeinschaft, Foto: gemeinfrei
Zu den Highlights zählen unter anderem Wautiers berühmte Serie Die fünf Sinne, die in Europa erstmals in vollständiger Form zu sehen ist (Rose-Marie and Eijk Van OtterlooCollection), ihr Selbstporträt (Privatsammlung), Blumengirlande mit einem Schmetterling (Het Noordbrabants Museum, ’s-Hertogenbosch, Dauerleihgabe aus Privatsammlung), Zwei Mädchen als hl. Agnes und hl. Dorothea (Königliches Museum für Schöne Künste Antwerpen – Flämische Gemeinschaft), Jungen beim Seifenblasen (Seattle Art Museum, Schenkung von Mr. Floyd Naramore), Die Erziehung Mariens (Privatsammlung, mit freundlicher Unterstützung der Hoogsteder Museum Foundation) und Porträt des Martino Martini (The Klesch Collection). Weitere wichtige Leihgaben stammen unter anderem aus der Österreichischen Nationalbibliothek Wien, der Universitätsbibliothek Wien, The Phoebus Foundation, den Königlichen Kunstmuseen Belgiens in Brüssel, dem Royal Collection Trust London, dem Rijksmuseum Amsterdam und von privaten Leihgebern.
Ausstellungsrundgang – Michaelina Wautier, Malerin
Die Selbstbewusste Signatur & Bilder als Indizien
Wenn Quellen fehlen, geben Bildanalysen Aufschluss: Michaelina Wautier verarbeitete Einflüsse von Van Dyck, Van Loon und De Crayer auf persönliche, oft subtile Weise – zwischen Eleganz, Hell-Dunkel-Kontrasten und Anklängen an Caravaggios Stil.

Der erste Saal eröffnet die Ausstellung mit vielschichtigen Werken zu biblischen Themen und präsentiert gleich zwei Glanzstücke. Im Gemälde Die Erziehung Mariens (1656) schafft die Künstlerin mit der ruhigen, intimen Szene, die Maria als Kind beim Lesenlernen zeigt, eine durchdachte Komposition mit meisterhafter Lichtführung. Besonders stolz dürfte Michaelina Wautier auf dieses Werk gewesen sein, denn sie signierte es deutlich sichtbar – inklusive Jahreszahl und mit dem Vermerk, sie habe es selbst erdacht und ausgeführt (lat. „invenit et fecit“). Zwei Mädchen als hl. Agnes und hl. Dorothea (1655) zeigt Wautiers Gespür für psychologische Tiefe und spirituelle Erzählkraft.
Auftraggeber und ihr Umfeld
Im Zentrum des zweiten Ausstellungssaals steht Michaelina Wautiers Porträtkunst, die ihre Nähe zum Brüsseler Hof und zu einflussreichen Auftraggebern belegt. Besonders Porträts von Militärs und Geistlichen, wie das eindrucksvolle Porträt eines Befehlshabers (1646), zeigen ihre psychologische Feinfühligkeit und heben sie deutlich von der Malweise ihres Bruders Charles ab. Ein Höhepunkt ist das Porträt des Martino Martini (1654), eines aus Italien stammenden Jesuitenmissionars.

Es war äußerst ungewöhnlich, dass ein Mann seines Ranges sich von einer Frau porträtieren ließ. Wautier malte den Gelehrten und Kartografen, der den ersten gedruckten Atlas von China erstellt und diesen Leopold Wilhelm gewidmet hatte, in chinesischer Hofkleidung. Die Verbindung zu Erzherzog Leopold Wilhelm verweist auf Wautiers Einbindung in ein etabliertes Netzwerk. Ein Kaufbeleg im Rechnungsbuch des Tanzmeisters De La Grené bezeugt zudem, dass sie als Künstlerin Aufträge erhielt und für ihre Arbeiten auch bezahlt wurde. In den angrenzenden Kabinetten treten Werke der Geschwister Wautier – Porträts, Andachts- und Altarbilder – in einen Dialog mit Arbeiten von Zeitgenossen wie Peter Paul Rubens, Anthonis van Dyck, Jacob van Oost d. Ä., Cornelis Meyssens, Pieter de Jode d. J., Cornelis Galle d. Ä. und Theodoor van Merlen d. J., wodurch sich Wautiers künstlerisches Umfeld und ihre Bedeutung innerhalb der flämischen Barockmalerei erschließen.
Das Sammlungsinventar als Quelle
Das Sammlungsinventar von Erzherzog Leopold Wilhelm ist ebenfalls in der Ausstellung zu sehen. Lange Zeit verschollen, ermöglichte seine Wiederentdeckung erstmals den Nachweis von Michaelina Wautiers Herkunft aus Mons und die Zuschreibung dreier Gemälde im Kunsthistorischen Museum – Hl. Joachim lesend, Hl. Josef und Hl. Joachim. Letzteres wird 1659 im Inventar fälschlich ihrer Schwester „Magdalena“ zugeschrieben, doch ein zeitgenössischer Vermerk auf der Rückseite, vermutlich von David Teniers d. J., dem Brüsseler Verantwortlichen für die Sammlung Leopold Wilhelms, nennt „Michelline Woutiers“ als Urheberin.
Besonderes Augenmerk gilt dem seit 1781 nicht mehr öffentlich gezeigten Hl. Joachim. Röntgenuntersuchungen bestätigten, dass das Gemälde ursprünglich rechteckig war. Für die Neuaufstellung der kaiserlichen Galerie unter Karl VI wurde es in ein Oval verwandelt – durch radikale Eingriffe wie das Umknicken und Abschneiden von Bildpartien. Erst 1967 wurde es wieder auf ein rechteckiges Format gebracht und mit weitreichenden Kittungen versehen, blieb aber im Depot. Für die aktuelle Ausstellung wurde das Gemälde behutsam restauriert, um seinen fragmentarischen Charakter zu erhalten und die Geschichte seiner Formatveränderungen nachvollziehbar zu machen, die es mit den Darstellungen des Hl. Joseph und dem Hl. Joachim lesend teilt.
Innovativ, selbstbewusst und mutig
Im nächsten Raum wird Michaelina Wautiers Innovationskraft offensichtlich. Sie inszenierte sich in ihrem Selbstporträt als selbstbewusste Künstlerin – mit Malutensilien vor der Staffelei. Ein damals radikaler Akt weiblicher Selbstverortung in der Kunst, denn Malerinnen waren die ersten Kunstschaffenden, die sich selbst bei der Arbeit darstellten. Im Gegensatz dazu präsentierten sich ihre männlichen Kollegen oft mit Zeichen gesellschaftlicher Anerkennung wie goldenen Ketten oder dem – eigentlich Adeligen vorbehaltenen – Degen, wie es Peter Paul Rubens in seinem daneben gezeigten Selbstporträt tat. Im monumentalen Triumph des Bacchus erscheint sie spärlich bekleidet als Bacchantin mit eigenem Antlitz und direktem Blickkontakt zum Publikum – eine kraftvolle Geste weiblicher Selbstbehauptung. Ihre Kenntnis des männlichen Aktes, vermutlich geübt durch private Zeichenstudien mit Modellen, führte lange zur Fehlzuschreibung des Gemäldes an männliche Künstler, darunter die Rubens Werkstatt und Luca Giordano. Humorvoll und sensibel gestaltet Wautier die Serie Die Fünf Sinne (1650) als Kindheitsszenen, die von ihrer Beobachtungsgabe und Porträtpraxis zeugen. Direkt im Anschluss präsentiert sich eine weitere Genreszene: Jungen beim Seifenblasen (1650/55) – eine Allegorie auf die Vergänglichkeit des Seins.

Auch ihre floralen Werke zeigen Innovationsgeist: Die 1652 entstandenen Blumengirlanden auf Antwerpener Tafeln verknüpfen barocke Blumenmalerei mit antiken Bukranienmotiven – ein einzigartiger Ansatz in der flämischen Kunst. Ihre einzige bekannte Zeichnung – Studie einer Büste des Ganymed Medici (1640/50) – verweist auf einen vertieften Zugang zur Antike, möglicherweise durch eine Reise nach Rom, ihren Bruder Charles oder die Kenntnis lokaler Antikensammlungen.
Kunst trifft KI
Zum Abschluss der Ausstellung lädt ein innovatives KI-Projekt dazu ein, Michaelina Wautiers monumentales Gemälde Der Triumph des Bacchus neu zu entdecken. Es misst heute 270 mal 355 Zentimeter, wurde jedoch im 18. Jahrhundert an beiden Seiten beschnitten. Rund 40 Zentimeter Bildfläche gingen dabei verloren, deren ursprüngliches Aussehen man heute nicht kennt. In einer Kooperation zwischen dem Kunsthistorischen Museum und dem Ars Electronica Futurelab wurden diese fehlenden Partien mittels künstlicher Intelligenz rekonstruiert – basierend auf ikonografischen Standards, Gigapixel-Scans und der Expertise zu Wautiers Malweise von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern. Erstmals im Deep Space 8K beim Ars Electronica Festival 2025 präsentiert, lässt sich die ursprüngliche Monumentalität des Werks nun wieder erleben.
WANN?
Ausstellungsdaten: Dienstag, 30. September 2025 bis Sonntag, 22. Februar 2026
Öffnungszeiten:
Täglich: 10 – 18 Uhr
Do: 10 – 21 Uhr
WO?
Kunsthistorisches Museum
Maria-Theresien-Platz
1010 Wien
KOSTET?
Regulär: online 22 EUR, vor Ort 24 EUR
Ermäßigt: online 19 EUR, vor Ort 20 EUR





