Einem interdisziplinären Forschungsteam der Alten Pinakothek und des Doerner Instituts in München ist eine spektakuläre Entdeckung gelungen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Erschließung der venezianischen Renaissancemalerei im Bestand der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen haben umfassende kunsthistorische wie kunsttechnologische Untersuchungen nun die Erkenntnis untermauert, die sich im Rahmen der Ausstellung „Venezia 500<<. Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“ (Alte Pinakothek, 27.10.2023–04.02.2024) bereits angedeutet hatte: Bei dem rätselhaften Doppelbildnis, das seit 2011 in der Grünen Galerie der Münchner Residenz ausgestellt war und jetzt dauerhaft in der Alten Pinakothek präsentiert wird, handelt es sich um eine Schöpfung von Giorgio da Castelfranco (1473/74–1510), genannt Giorgione – also um eines der so raren Werke des jung verstorbenen Ausnahmetalents, das die Malkunst der Renaissance revolutionierte. In einer frei zugänglichen Onlinepublikation werden die Forschungsergebnisse, die für die Kunstgeschichte der italienischen Renaissancemalerei nicht weniger als eine Sensation bedeuten, nun der Öffentlichkeit vorgestellt.
Abb. oben: Kartierung der übermalten Figurenzeichnung auf invertiertem Zink-Verteilungsbild, (Röntgenfluoreszenz-Scan der Gemälderückseite), © Anneliese Földes/Jens Wagner (Doerner Institut).
Der berühmte Künstlerbiograph Giorgio Vasari hatte das Gemälde 1568 im Palazzo der Florentiner Bankiersfamilie Borgherini gesehen und als Bildnis des jungen Giovanni Borgherini mit seinem Lehrer aus Venedig beschrieben. Tatsächlich entspricht der Charakterkopf des porträtierten Humanisten dem überlieferten Aussehen des venezianischen Universalgelehrten Trifone Gabriele, zu dessen Schülern Giovanni Borgherini nachweislich zählte. Mit Astrolabium und Zirkel demonstriert der auch von zeitgenössischen Quellen als Lehrmeister der Astronomie und Kosmologie ausgewiesene Gelehrte im Münchner Porträt, wie sich Himmel und Erde vermessen lassen, während der jugendliche Giovanni mit seinen weichen Locken und den dunklen Augen dem Ideal musisch-intellektueller Sehnsucht entspricht, das die venezianische Bildniskultur dieser Jahre prägte.
Kunsttechnologische Untersuchungen ermöglichten die Bestimmung der vom Künstler verwendeten Materialien, deren Vielfalt das breite Angebot venezianischer Farbenhändler spiegelt, und brachten darüber hinaus einen im Wortsinn vielschichtigen Schaffensprozess ans Licht. Durch bildgebende und materialanalytische Verfahren, darunter vor allem Makro-Röntgenfluoreszenz-Scans der Bildvorder- und Rückseite, konnten unter der sichtbaren Darstellung drei weitere Kompositionen aufgedeckt werden: eine Pinselzeichnung der biblischen Szene des zwölfjährigen Jesus unter den Schriftgelehrten, darüber eine an Giorgiones berühmte Tempesta erinnernde Landschaftsszene sowie zuletzt das Bildnis einer kostbar gekleideten Figur, deren Gewand wohl aus dem nasridischen Emirat von Granada kam. Wie Querschliffproben belegen, entstanden alle vier Kompositionen in unmittelbarer Abfolge. Die technologischen Untersuchungen gewähren also seltene Einblicke in die Arbeitsweise eines kompromisslos innovativen Künstlers. Zugleich zeugen die Bildfindungen von der Experimentierfreude und Ambition des Malers, der mit seiner virtuosen Pinselzeichnung in den Wettstreit zu Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer trat, mit der gemalten Fantasie einer arkadischen Landschaft den Dialog zu poetischen Schöpfungen seiner Zeitgenossen suchte und dessen detailgenauer Blick für ein Stoffmuster aus dem maurischen Spanien die venezianische Offenheit im kulturellen Austausch mit der Islamischen Welt widerspiegelt. Zusammengenommen ergeben die Erkenntnisse eine sehr starke Indizienkette, deren Beweiskraft für die Zuschreibung an Giorgione wesentlich durch die Aufdeckung bzw. Neuinterpretation der Quellen gestützt wird, die sich zur Provenienz und Sammlungsgeschichte erhalten haben.
Im Detail und mit allen kunsttechnologischen Aufnahmen wurden die Ergebnisse, dank derer in der Alten Pinakothek neben dem Bildnis eines jungen Mannes (um 1505/10) nun ein weiteres Werk Giorgiones zu sehen ist, jetzt im internationalen Open-Access-Magazin ArtMatters publiziert: One Canvas, Four Ideas: A Double Portrait Attributed to Giorgione With Different Compositions Underneath | ArtMatters.
Kunstminister Markus Blume betont: „Der Fund eines Giorgiones in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ist ein wahres Weihnachtswunder! Ein Giorgione ist nicht nur für die Alte Pinakothek spektakulär, sondern auch ein Höhepunkt für die internationale Kunstwelt. Ich danke dem interdisziplinären Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Alten Pinakothek und des Doerner Instituts München, dass sie mit ihrem Scharfsinn, ihrer präzisen Forschungsarbeit sowie mit modernster Analysetechnik diese Entdeckung möglich gemacht haben.“
„Giorgiones vielschichtiges Doppelbildnis bündelt alles, was die kulturelle Blüte Venedigs im frühen 16. Jahrhundert ausmacht“, so Andreas Schumacher, Sammlungsleiter für die Italienische Malerei an der Alten Pinakothek. „Die Entdeckung dieses Meisterwerks verdankt sich der Präzision von zwei jungen Wissenschaftlerinnen, Johanna Pawis und Anneliese Földes, die wir dank großzügiger Förderung unseres Projekts beschäftigen können. Das Gemälde ist von unschätzbarem Wert, es ist ein spektakulärer Glücksfall für die Alte Pinakothek und eine Sensation für die italienische Kunstgeschichte. Ein Giorgione unterm Weihnachtsbaum ist mehr als ein 6er im Lotto!“
„Unser Erfolgsrezept ist die enge fächerübergreifende Teamarbeit unmittelbar am Kunstwerk, im direkten Austausch zwischen Kunstgeschichte, Restaurierung und Naturwissenschaften, auf Augenhöhe und mit größter Durchlässigkeit zwischen den Disziplinen“, hebt Eva Ortner, Direktorin des Doerner Instituts hervor.
Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, unterstreicht abschließend: „Museen sind ihrem Wesen nach nicht nur Orte der kulturellen Bildung, der Vermittlung und der Kommunikation. Sie sind auch Forschungseinrichtungen. Mit größter Sorgfalt werden die eigenen Bestände untersucht, was in vorliegendem Fall durch die Großzügigkeit vieler Förderer möglich wurde. Mein herzlicher Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Hubert Burda Stiftung.“