In direkter Auseinandersetzung mit Gerhard Richters „Birkenau“-Zyklus, der seit dem 1. April 2023 in der benachbarten Neuen Nationalgalerie gezeigt wird, beschäftigt sich der deutsch-britische Künstler Michael Müller (geb. 1970) in einer Sonderausstellung in der St. Matthäus-Kirche mit der Frage der Darstellbarkeit des Holocaust und des künstlerischen Umgangs mit dem Bösen. Hiermit laden wir Sie herzlich ein zur Pressevorbesichtigung der Ausstellung mit dem Künstler am Freitag, 21. April 2023, um 12 Uhr in die St. Matthäus-Kirche.
Abb. oben: Michael Müller, Birkenau in Farbe, 2022, Öl auf bedrucktem Belgischen Leinen, 208 x 160 x 3,5 cm, © Studio Michael Müller, Foto Mathias Schormann
Lässt sich das Grauen des Holocaust zeigen? Gerhard Richters 2014 entstandener „Birkenau“-Zyklus – vier abstrakte Übermalungen von auf Fotografien aus Auschwitz-Birkenau beruhenden fotorealistischen Gemälden – gilt als wichtigste künstlerische Beschäftigung mit dem Thema. Der Künstler Michael Müller befragt in einer 16-teiligen Arbeit Richters Werk, indem er dessen Schichten freilegt und Mechanismen zeigt, die bei genauer Betrachtung und Analyse Raum für Diskussion lassen.
Dass sich damit zugleich grundlegende Fragen nach künstlerischen Formen und Grenzen der Darstellbarkeit singulärer Ereignisse und dem Verhältnis von Fotografie und Malerei, Wirklichkeit und Abbild, Gegenständlichkeit und Abstraktion stellen, zeigen die anderen Werke der Ausstellung. Sie präsentieren alternative Formen der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, und verzichten dabei auf eine definitive, endgültige Antwort, sondern schaffen einen Raum der Offenheit, der eine beständig zu führende und immer wieder zu aktualisierende Diskussion zulässt und ermöglicht. Müllers Werke rufen im Dialog mit den Werken Gerhard Richters zur Auseinandersetzung mit der Frage nach angemessenen Formen der Erinnerung auf.
Der in der Ausstellung in der St. Matthäus-Kirche gezeigte, zwischen 2013 und 2022 entstandene Werkkomplex von Michael Müller widmet sich intensiv der Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines künstlerischen Umgangs mit dem Holocaust und nach dessen Darstellbarkeit mit künstlerischen Mitteln. Ein Thema, das sich zwar in Müllers Oeuvre seit längerem wiederholt findet, doch hier eine neue, eine gesteigerte Intensität und Fokussierung findet. Die einzelnen Werke vereint, dass sie eine Befragung aus unterschiedlichen analytischen Richtungen, aus verschiedenen Perspektiven und in einem weiten Spektrum künstlerischer Medien – Malerei, Skulptur, Fotografie, Text und Konzept – , sind und sich nur auf die Offenheit des Fragens, den Erkenntnisfortschritt durch stetige, aktuelle Überprüfung berufen.
Eine besondere Rolle innerhalb des Werkkomplexes kommt den vier Fotografien zu, die vermutlich von Alberto Errera, einem Mitglied des sogenannten „Sonderkommandos“ von Auschwitz-Birkenau, heimlich in Birkenau aufgenommen und aus dem Vernichtungslager geschmuggelt wurden. Diese vier Fotografien sind die einzigen direkten und unmittelbaren visuellen Zeugnisse des Holocaust. Das „Sonderkommando“, eine Gruppe jüdischer Häftlinge, die den Massenmord durch die Nationalsozialisten vor- und nachbereiten mussten, war in die perverse Logik der Nationalsozialisten eingebunden, jedes Zeugnis und jeden Zeugen des Holocaust zu vernichten, jede Spur zu tilgen. Das „Sonderkommando“, das Häftlinge in die Gaskammern führen, die ineinander verkrallten Leichen aus den Gaskammern zerren, ihnen Goldzähne ausbrechen und sie in den Krematorien oder in Gräben verbrennen musste, wurde in regelmäßigen Abständen „ausgetauscht“, das heißt ermordet.
Im Kirchenraum der St. Matthäus-Kirche stellt die Ausstellung »Am Abgrund der Bilder« nicht nur die Frage nach dem biblischen Bilderverbot neu, sondern auch die Frage nach einem Gott, der den millionenfachen Mord zulassen konnte. Zugleich werfen sie ein Licht auf die zu wenig beachtete Geschichte des jüdischen Bürgertums im alten Tiergartenviertel rund um die St. Matthäus-Kirche, das – wie das Viertel als Ganzes – den Nationalsozialisten zum Opfer fiel und durch das Kulturforum »übermalt« wurde. Seine Geschichte wird gerade erst wiederentdeckt.
In seinem Werk setzt sich der deutsch-britische Künstler Michael Anthony Müller (geb. 1970) mit der Ästhetik und Bildwerdung komplexer Gedankenprozesse auseinander, die er beständig nach ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit und ihrem materiellen Gehalt befragt. Ausgehend von historischen Narrativen, wissenschaftlichen Methoden, gesellschaftlichen Normen sowie sprachlichen und numerischen Systemen entwickelt er eine künstlerische Praxis, die diese Systeme und Strukturen durch Variation, Transformation, Manipulation und fiktionalisierende Modifikation immer wieder an ihre Grenzen führt. Die entstehenden Abweichungen und Irritationen sowie der sich daraus ergebende Zweifel am Bestehenden und das Misstrauen gegenüber unhinterfragten Wahrheiten schaffen eine völlig eigenständige künstlerische Formensprache, die sich neben großformatigen Gemälden und Zeichnungen auch in Skulpturen, Installationen, Performances sowie in Müllers kuratorischer Praxis manifestiert. Michael Müller lebt und arbeitet in Berlin. Von 2015 bis 2018 lehrte er als Professor an der Universität der Künste zu Berlin (UdK). Im Rahmen von Einzelausstellungen wurden Michael Müllers Werke zuletzt u. a. im Städel Museum Frankfurt, dem Museum im Kulturspeicher Würzburg und in der Galerie du Monde Hongkong gezeigt. www.studiomichaelmueller.com
WO?
St. Matthäus-Kirche, Kulturforum
Matthäikirchplatz
10785 Berlin-Tiergarten
WANN?
Eröffnung:
Samstag, 22. April 2023, 19 Uhr
Ausstellung:
Sonntag, 23. April – Sonntag, 3. September 2023
Dienstag bis Sonntag 11-18 Uhr