Jüdisches Museum Berlin (JMB) zeigt seit 05. Mai 2023 die Ausstellung Sans Histoire der Künstlerin Maya Schweizer. Mit der Videoinstallation Sans histoire gewann die Künstlerin Maya Schweizer den diesjährigen Dagesh-Kunstpreis, gemeinsam vergeben vom Jüdischen Museum Berlin und von „Dagesh – Jüdische Kunst im Kontext“. Die Künstlerin beschäftigt sich in ihrer Präsentation mit dem Jüdischen Museum Berlin als Ort der ritualisierten Erinnerung. Sie setzt der in der Ausschreibung gestellten Frage „Was jetzt? Von Dystopien zu Utopien“ ein offenes „Ohne Geschichte“ entgegen.
Abb. oben: Maya Schweizer, Sans histoire, 2023, Video still; VG- BildKunst, Bonn 2023
Was passiert, wenn Erinnerung vor historischen Umwälzungen, vor der Klimakatastrophe oder letztlich der Endlichkeit menschlicher Existenz verblasst?
In Sans histoire, dem für dieses Projekt eigens produzierten Film, spitzt Maya Schweizer ihr Gedankenexperiment eines Bewusstseins „ohne Geschichte“ zu: Was passiert, wenn Erinnerung vor historischen Umwälzungen, vor der Klimakatastrophe oder letztlich der Endlichkeit menschlicher Existenz verblasst? Wirkt sich die Vergangenheit noch auf die Zukunft aus? Wird eine gemeinschaftlich einsetzende Amnesie durch ein digitales Einspeichern aufgehalten oder gefördert? In einem Wechsel von Dystopien und Utopien, von bedrohlichen und befreienden Impulsen erkundet die Künstlerin trans- und posthumane Szenarien.
Die konzeptionelle und künstlerische Vision, die Maya Schweizer in ihrer Arbeit entfaltet, hat die Jury begeistert:
„In Maya Schweizers Arbeit wird die Frage ‚Was jetzt?‘ multidimensional beantwortet: Statt einfacher Antworten lädt Sans histoire dazu ein, Narrative gesellschaftlicher Realitäten und vielfältig zusammengesetzte Utopien zu hinterfragen. Gerade das Spannungsfeld aus individuellem und kollektivem Handeln wird in ihrer Arbeit fokussiert. Somit greift Maya Schweizer eine entscheidende Fragestellung unserer Gegenwart auf, nämlich die nach gesellschaftlicher und individueller Verantwortung für unsere Zukunft.“
Neben der preisgekrönten Videoinstallation zeigt die Ausstellung drei weitere experimentelle filmische Werke aus den Jahren 2012 bis 2020. Schweizer verwebt in den vier Arbeiten Fragmente der Erinnerung und Spuren des Vergessens. So entstehen aus Texten, Tönen und Bildern bewegte Gedankenströme, die sich aber nicht zu Erzählungen zusammenfügen.
Maya Schweizer wurde 1976 in Paris geboren und studierte Kunst und Kunstgeschichte in Aix-en-Provence, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und an der Universität der Künste Berlin, wo sie 2007 ihren Abschluss als Meisterschülerin bei Lothar Baumgarten machte. Ihre Werke wurden bereits in zahlreichen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt.
Der Dagesh-Kunstpreis und die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin werden durch eine Förderung der FREUNDE des JMB ermöglicht.
Die ausgestellten Werke
Sans histoire
HD / 28:30‘ / Farbe und Schwarz-Weiß / Ton, 2023
Maya Schweizer antwortet auf die vom Dagesh-Kunstpreis gestellte Frage „Was Jetzt? – Von Dystopien zu Utopien“ mit ihrem epischen Gedankenfluss Sans histoire. „Ohne Geschichte“ konfrontiert die Künstlerin eine aktuelle Furcht vor dem Ende der Zivilisation. Apokalyptisch wirkende Nachtaufnahmen von Tieren, technisierte Zukunftsvisionen, Bilder von exzessiv tanzenden oder flüchtenden Menschen erzeugen eine Endzeitstimmung. Was zuerst dystopisch wirkt, birgt das utopische Potential eines Neuanfangs: Immer wieder setzt Schweizer Bilder von Wellen, Meer und Wasser ein, die das Gezeigte mit sich reißen, wegspülen und an sich binden. Das Jüdische Museum Berlin ist ein Ort der Erinnerung. Es ist eine museale Institution, die dem Thema der Geschichte der Jüdinnen*Juden in Deutschland gewidmet ist. Darüber hinaus ist die Erinnerung in der jüdischen Tradition ein ritualisierter Akt, der bei jedem Fest eine große Rolle spielt. Maya Schweizer lenkt hingegen den Blick auf das Vergessen als einer vom Menschen bedingten Realität. In diesem Paradox liegt auch ihr Vorschlag für den Umgang mit den existentiellen Ängsten unserer Zeit: Sans histoire ist ein Gedenkort an die Erinnerung und ein Mahnmal des Vergessens.
Voices and Shells
HD / 18‘ / Farbe und Schwarz-Weiß / Ton, Koproduktion mit Museum Villa Stuck, 2020
Die Kamera führt aus der Kanalisation Münchens, dem dunklen, fließenden Untergrund, an die taghelle, gebaute Stadtoberfläche. Dort tastet sie Fassadenteile ab und deckt Spuren der nationalsozialistischen Geschichte der Stadt auf. Stimmen sind hörbar, die sich mit selbst produzierten und gefundenem Bildmaterial abwechseln. Dabei wiederholt sich das Motiv der Spirale als Symbol eines zeitlichen Wirbels und einer Wiederkehr, die Erinnerungen transportiert, aber auch verhüllt. Der Film scheint einem eigenen Spürsinn und einer eigenen Navigation zu folgen. Voices and Shells, entstanden im Zusammenhang mit Maya Schweizers Ausstellung in der Villa Stuck in München, ist beispielhaft für ihre Erkundung konkreter Erinnerungsorte. Diese erscheinen in ihren Werken wie Organismen mit einem Gedächtnis und der Fähigkeit der Verdrängung.
L’étoile de mer
HD / 11‘ / Farbe und Schwarz-Weiß / Ton, Koproduktion mit dem Historischen Museum Frankfurt, 2019
Der Seestern führt in Maya Schweizers experimentelle filmische Methode ein. Die Künstlerin taucht in ein Gedächtnismeer, das sie als assoziative Montage von Filmausschnitten aus dem eigenen Archiv und der Filmgeschichte mit eingeblendeten Texten und Toncollagen zusammensetzt. Diese gefundenen, aus ihren vorherigen Kontexten weitergedachten Bilder ermöglichen durch ihre Vielzahl das Vergessen. Schweizer begeht das Meer als Traumwelt, in der das Entfallene ebenso greifbar wird wie die Erinnerung.
Manou, La Seyne sur Mer, 2011
HD / 9:30‘ / Farbe und Schwarz-Weiß / ohne Ton, 2012
Maya Schweizer befragt ihre Großmutter nach ihrem Alltag im Pflegeheim – ein Gespräch, dem wie einer archivierten Dokumentation per abgefilmter Schreibmaschinenschrift zu folgen ist. Das Gespräch findet nicht im Heim, sondern an einem Nachmittag bei Verwandten statt. Den protokollierten Bewusstseinsstrom unterbrechen Fotos aus dem Zimmer der Großmutter im Heim. Wie Stillleben lenken sie den Blick auf die Inneneinrichtung, die oft unbeachtet bleibt. Die Künstlerin geht einer individuellen Erfahrung nach, zeigt wie sich Gedanken formulieren und wieder verlieren.
WO?
Jüdisches Museum
Libeskind-Bau EG, Eric F. Ross Galerie
Lindenstraße 9–14
10969 Berlin-Kreuzberg
WANN?
Freitag, 05. Mai – Sonntag, 27. August 2023
Eintritt
Freier Eintritt
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