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“Ich habe mir die Welt selbst zusammenbuchstabiert.” Der Vater des Parlaments der Bäume Ben Wagin ist mit 91 Jahren gestorben.d

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Ben Wagin im Juni 2014, Foto: ART@Berlin

“Nenn’ mich nicht Künstler,” lautet der Titel seiner lesenswerten Autobiografie. Ben Wagin sah sich als Handwerker. Jemand, der etwas mit seinen Händen tut. Und so tat er. Er wurde Tischler, später Galerist, dann unermüdlicher Umweltaktivist, Baumpate, Ginkgofreund und Aktionskünstler, der sich seit Jahrzehnten für die Bewahrung und Aussöhnung mit der Natur, sowie einen respektvollen und zugeneigten Umgang mit ihr einsetzte. Nun ist er, der kein Künstler sein wollte, und dennoch ein künstlerisches Lebenswerk hinterlässt, der 1930 geborene Ben Wargin, der sich entschied, das “r” aus seinem Geburtsnamen zu streichen, weil er keinen Krieg (engl.: war) in seinem Namen tragen wollte, der traditionell seinen Zeugungstag am 21. Juni feierte anstatt seines Geburtstags am 25. März, am 28. Juli 2021 in Berlin gestorben.

DEEDS NEWS - Ben Wagin an seinem 85sten Zeugungstag 21_06_2014 - Foto ART at Berlin Stephanie Schneider
Ben Wagin an seinem 85. Zeugungstag, dem 21. Juni 2014, Foto: ART@Berlin

Wagin schuf in Berlin und weit darüber hinaus zahlreiche außergewöhnliche Kunst- und Erinnerungsorte. In seinem zentralen Werk, dem „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“, einem 1990 auf seine Initiative mit Bäumen bepflanzten Stück Mauerstreifen mitten im Berliner Regierungsviertel, stellte er den traditionellen Begriff vom Denkmal zur Disposition.

Schon im Winter 1961 nahm Ben Wagin mit einer Reihe anderer Künstler an einem Bildhauersymposium im Tiergarten teil, das die brutale Grenzziehung der Berliner Mauer als erste künstlerische Auseinandersetzung thematisierte. Zum 9. November 1990 errichtete er den Gedenkort „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ auf dem leeren Gebiet des ehemaligen Grenzstreifens der Berliner Mauer – heute gelegen zwischen der Bundespressekonferenz und dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus.

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Das Parlament der Bäume in Blickrichtung Bundespressekonferenz, 21.06.2014, Foto: ART@Berlin

Herzstück des 500 Quadratmeter großen, von Wagin besetzten und gegen alle Verwaltungsordnungen verteidigten Gedenkortes für die Toten an der Berliner Mauer und gegen jede Form von Krieg und Gewalt ist ein Karree aus 16 Bäumen, die 1990 die 16 gesamtdeutschen Ministerpräsidenten pflanzten.

Man kann mit Politik keine Kultur machen, aber vielleicht mit Kultur Politik.

Theodor Heuss

Gedenksteine, Zeugnisse der Berliner Grenzanlagen, Blumenbeete, Bilder und Texte ergänzen die Installation. Entstanden ist ein dynamischer, sich stets verändernder Ort der Natur, Erinnerung und Kunst.

DEEDS NEWS - Das Parlament der Baeume an Ben Wagins 85 Zeugungstag 21_06_2014 - 4 - Foto ART at Berlin Stephanie Schneider
Das Parlament der Bäume in Blickrichtung Osten, 21.06.2014, Foto: ART@Berlin

Ben Wagin legte diesen Ort zu einem Zeitpunkt an, als sich sonst niemand für das einstige Niemandsland zwischen Ost und West verantwortlich fühlte und schuf damit einen unkonventionellen Nachdenk- und Gedenk-, Erinnerungs- und Erkundungsort.

DEEDS NEWS - Parlament der Baeume am 85sten Zeugungstag von Ben Wagin 21_06_2014 - 9 - Foto ART at Berlin Stephanie Schneider-min
Im Parlament der Bäume, 21.06.2014, Foto: ART@Berlin
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Im Parlament der Bäume, 21.06.2014, Foto: ART@Berlin

Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ ermöglicht Auseinandersetzung und Diskussion über die Teilung und ihre bis heute sichtbaren Spuren, über Krieg und Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart und ebenso über das wechselvolle Zusammenspiel von Mensch und Natur. Dies wird nicht zuletzt in der gemalten Aussage „Das Fundament eines gemeinsamen europäischen Hauses muss eine intakte Umwelt sein“ deutlich – eine heute mehr denn je bedeutsame Botschaft und Aufforderung.

DEEDS NEWS - Parlament der Baeume am 85sten Zeugungstag von Ben Wagin 21_06_2014 - 6 - Foto ART at Berlin Stephanie Schneider
Das Parlament der Bäume in Blickrichtung Spree, 21.06.2014, Foto: ART@Berlin

Die Zukunft des „Parlaments“, die jahrelang unsicher war, ist mittlerweile institutionell gesichert. Doch gilt es nun mit ebenso großen Anstrengungen die weiteren Lebens- und Handlungsorte Wagins, den Garten am Anhalter Bahnhof wie auch sein Atelier in der Joseph-Haydn-Straße, langfristig für Berlin zu sichern und zu bewahren.

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Zitat aus Ben Wagins Autobiografie ‘Nenn mich nicht Künstler’: “Eigentlich ist es positiv, dass ich nicht diese Verblödung oder Dressur einer Schule oder Universität habe hinnehmen müssen. Ich habe mir die Welt selbst zusammenbuchstabiert.” Foto: ART@Berlin

Mit großer Betroffenheit hat die Stiftung Berliner Mauer die Nachricht vom Tode Ben Wagins am 28. Juli 2021 aufgenommen. Der Direktor der Stiftung Berliner Mauer, Prof. Dr. Axel Klausmeier, würdigt den Verstorbenen:

„Ben Wagin ist tot. Das ist eigentlich unvorstellbar, denn sein Lebens- und Schaffensdrang war bis zuletzt völlig ungebrochen. Er hat mit seinem jahrelangen Engagement gegen Krieg und Gewalt unsere Stadt und ihre Erinnerungskultur im öffentlichen Raum maßgeblich geprägt. Mit seinem öffentlichen Wirken, seinen zahllosen Baumpflanzungen, insbesondere von Ginkgos, und seinem Setzen von mahnenden Erinnerungszeichen an die Verbrechen beider deutscher Diktaturen, seien es seine Weltbäume oder die Gestaltung von Flächen am S-Bahnhof Savignyplatz, im Tiergarten, am Anhalter Bahnhof und an so vielen Orten mehr, hat er einzigartige politische Statements geschaffen und sein ganz eigenes Erinnerungsnetz über sein geliebtes Berlin gelegt.
Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt, das zukünftig von der Stiftung Berliner Mauer betreut wird, ist das bekannteste Zeugnis seines Lebenswerkes. Der letzte authentische Rest des DDR-Grenzregimes im Regierungsviertel ist nicht nur ein wichtiger Teil der Berliner Gedenkstättenlandschaft, sondern zeigt auch, wie bürgerschaftliches Engagement unmittelbar nach der politischen Überwindung der Berliner Mauer durch künstlerische Aneignung einen historischen Ort langfristig erhielt und ihn sukzessive überformte.
Es ist allein Ben Wagins grenzenloser Beharrlichkeit, seiner störrischen Radikalität wie auch seiner großen Emotionalität zu danken, dass diese grüne Erinnerungs-Oase gegen alle politischen und marktwirtschaftlichen Begehrlichkeiten erhalten blieb. Enervierende Telefonate und zunächst rätselhaft erscheinende, doch immer tiefgründige Aussagen waren dabei die Mittel seiner Wahl. Ben, der Schrecken jeder Verwaltung und Feind institutionellen Denkens, war ein sanftmütiger Menschenfänger, der Menschen für sich und seine Anliegen durch seinen natürlichen Charme und seine mitunter schroffe Herzlichkeit gewann. Das Parlament der Bäume im Sinne des Künstlers Ben Wagin und seiner enormen Vision für unsere (Um-)Welt weiterzuführen, zu bewahren und zu vermitteln, ist uns in gleichem Maße Verpflichtung wie Herzensanliegen. Wir werden ihn, seinen Witz, sein Wissen, seine Lebenserfahrungen wie seine Geschichten, seine Rätsel, seine Weisheit und seine grenzenlose Menschlichkeit, aber natürlich auch seine zehrende Sturheit unendlich vermissen.“




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