PROLOG | PERSÖNLICHES
Herr Schels, stellen Sie sich vor, wir könnten uns jetzt gegenübersitzen. Wo sprechen wir zusammen, wo treffen wir Sie? Eine Fabriketage in Hamburg-Eimsbüttel, kreatives Chaos mit analoger Dunkelkammer.
Abb. oben: Dunkelkammer, Juli 2021
Woher kommen Sie, wo sind Sie wann geboren? Geboren bin ich 1936 in Landshut, als jüngstes von sechs Geschwistern. Wo leben und arbeiten Sie derzeit? Siehe oben.
Welche Stationen und Menschen haben Sie geprägt? Kommt darauf an, in welchem Alter. Ich könnte ganz simpel sagen: Meine Eltern, die katholische Kirche und Hitler. Aber danach kam doch noch einiges. Mein Vater fuhr Mehlsäcke aus, meine Mutter kochte, putzte, wusch – alles noch ohne Waschmaschine und Kühlschrank. Bei Kriegsende war ich neun Jahre alt. Ich ging zur Volksschule, mit 14 begann ich eine Lehre als Schaufensterdekorateur in einem Modehaus in Landshut. Es war ein Beruf, der mir den Weg aus der Provinz eröffnete. Mit 21 ging ich als Dekorateur nach Barcelona, später nach Genf und Kanada. Ich war gut im Kleider stecken. Der Beruf brachte mich auf den Gedanken, Modefotograf zu werden. Fotografie war immer meine Leidenschaft.
Von meinem Lehrlingsgehalt hatte ich mir noch in Landshut eine Leica 1A gekauft, für 300 Mark, das war damals ein Jahreslohn. Als ich Ende der Sechzigerjahre nach New York ging, um Fotograf zu werden, war ich schon Anfang Dreißig. Welche Schriftsteller*innen finden Sie derzeit spannend und welche Bücher finden sich in Ihrem Bücherregal? Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen. In den Regalen stehen ein paar hundert ungelesene Bücher und Ausstellungskataloge.
Welche Bücher haben Sie beeinflusst oder geprägt? Faust. Shakespare: Maß für Maß. Die Bibel. Was lesen Sie aktuell und wo liegt es griffbereit? Die Zeitung. Sie stapelt sich in der Küche. Welche Musik hören Sie und wann? Am liebsten Schubert und Bach, aber immer weniger. Wenn Sie etwas für uns kochen würden, was wäre es? Bei mir kochen die Gäste. Was essen Sie am liebsten? Kartoffeln, in jeder Form. Was halten Sie vom Frühstücken? Hauptsache der Kaffee ist heiß.
Welchen Sport oder Ausgleich zu Ihrer Arbeit betreiben Sie? Komische Fragen stellen Sie… Haben Sie besondere Leidenschaften oder Hobbies, für die Sie brennen, und wenn ja welche? Ich vermisse kein Hobby. Welches Persönlichkeitsmerkmal macht Sie aus? Chaos. Haben Sie ein Anliegen, das Sie mit uns teilen möchten oder eine – nicht gestellte Frage, auf die sie gerne eine Antwort geben möchten? Nein.
INTERVIEW | KÜNSTLER + POSITION
Zu Beginn erzählen Sie uns bitte in ein paar Sätzen Ihre künstlerische Vita.
Ich hatte nie eine akademische Ausbildung. Als ich beschloss, Fotograf zu werden, zählte die Fotografie noch nicht als Kunst, und ich sah ich mich nicht als Künstler. In New York arbeitete ich als Assistent bei Modefotografen.
Später ging ich zurück nach Deutschland und eröffnete in München ein Studio. Ich arbeitete für die Werbung und redaktionell für Magazine wie „Annabelle“, „Brigitte“, „Playboy“, „ZEIT-Magazin“, „Geo“… Ich habe vieles fotografiert: Kindermode, Autos, Sozialreportagen, Prominente, die Erde aus der Luft. 1990 zog ich nach Hamburg.
Die Jahre der Auftragsfotografie gaben mir später die materielle Freiheit, mich mit eigenen Themen zu beschäftigen. Ab 1974 fotografierte ich über viele Jahre für die Zeitschrift “Eltern” Reportagen über Geburten. Seit ich die wenige Augenblicke alten Kinder porträtierte, hat mich die Beschäftigung mit Gesichtern nicht mehr losgelassen. Wer sind wir, wenn wir auf die Welt kommen? Welche Möglichkeiten haben wir, welche Grenzen? Mit dieser Frage im Kopf ging ich als Porträtfotograf auf Menschen zu, die mich interessierten, auch ohne Auftrag. Das mache ich bis heute.
In fotografischen Serien und Langzeitstudien habe ich Blinde, frühgeborene Kinder oder Künstler einer Behindertenwerkstatt porträtiert. Eine Serie, die Hospizpatienten kurze Zeit vor und nach deren Tod zeigt, habe ich gemeinsam mit meiner Partnerin, der Journalistin Beate Lakotta, realisiert. Die Begegnung mit ihr hat mich geprägt. Wir arbeiten viel zusammen.
Erläutern Sie uns kurz Ihr aktuelles Projekt bzw. die kommende Ausstellung.
Seit 2013 fotografiere ich junge Menschen, die im Körper eines Jungen geboren sind, sich aber als Mädchen fühlen oder umgekehrt. Ich begleite sie vom Zeitpunkt des Beginns der Hormonbehandlung bis zum Abschluss der Geschlechtsangleichung.
Im Rahmen dieses Projekts habe ich zum ersten Mal mit Video gearbeitet. Gemeinsam mit meiner Partnerin haben wir mehrere hundert Stunden Interviewmaterial mit Transjugendlichen aufgezeichnet.
Arbeiten aus der Serie Trans* sind zurzeit bei 68projects in der Fasanenstraße zu sehen, gezeigt wird auch ein 55-Minuten-Video. Die Arbeit an der Serie geht weiter.
Worüber machen Sie sich zurzeit am meisten Gedanken; was beschäftigt Sie?
Das Übliche: Alter, Krankheit, Tod, die Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft.
Wie sind Sie zur Kunst gekommen? Warum Kunst?
Die Kunst kam zu mir.
Was macht Sie aktuell glücklich?
Guter Schlaf.
Was macht Ihnen aktuell Angst?
Siehe Frage 3. (Anm. d. Red.: “Das Übliche: Alter, Krankheit, Tod, die Ungerechtigkeit der Weltwirtschaft.”)
Glauben Sie, dass Kunst eine gesellschaftliche Verantwortung trägt? Und was denken Sie, was sie bewirken kann?
Die Kunst – nein. Künstlerinnen und Künstler – ja, nach eigener Entscheidung. Wie jeder Mensch.
Was macht Ihre Kunst aus? Worum geht es in Ihrem Werk – was sind die zentralen Themen?
THE DEED | DAS WERK: Walter Schels
Der in Landshut geborene und in Hamburg lebende und arbeitende Fotograf Walter Schels (*1936) spricht im Rahmen seines Interviews über die zentrale Botschaft seines künstlerischen Werks.
Schimpanse, 1992
Herr Schels, bitte beschreiben Sie das Kernthema und die zentrale Botschaft Ihres Werks. Was ist das Ziel Ihrer Kunst, Ihres Werks – was soll es beim Betrachter bewirken?
Mein Antrieb ist meine eigene Neugier. Der Wunsch nach Erkenntnisgewinn. Zentrales Thema ist der Mensch. Die Frage nach seinem inneren Wesen: Warum bin ich, wie ich bin?
Elefant, 1993
Auf ähnliche Weise interessiere ich mich auch für Tiere, Blumen … für alles, was lebt und vergeht. Ich verfolge dabei aber keine gesellschaftliche Mission und habe auch keine Botschaft.
Stellen Sie uns die Arbeit vor, die aus Ihrer Sicht exemplarisch für die Botschaft Ihres Werks steht, oder diese aus Ihrer Sicht am besten verkörpert.
Seit 2013 fotografiere ich junge Menschen, die im Körper eines Jungen geboren sind, sich aber als Mädchen fühlen oder umgekehrt. Ich begleite sie vom Zeitpunkt des Beginns der Hormonbehandlung bis zum Abschluss der Geschlechtsangleichung. (Anm. d. Red.: Mehr dazu im Interview)
Jana, 14 Jahre, 2014 (geboren in einem männlichen Körper)
Jana, 17 Jahre, 2017
Fynn, 17 Jahre, 2014 (geboren in einem weiblichen Körper)
Fynn, 21 years, 2018
Eine Serie, die Hospizpatienten kurze Zeit vor und nach deren Tod zeigt, habe ich gemeinsam mit meiner Partnerin, der Journalistin Beate Lakotta, realisiert.
Life Before Death, Heiner Schmitz, 2004
Life Before Death, Jannik Boehmfeld, 2004
Life Before Death, Maria Cao, 2004
Ein anderes Thema, mit dem ich mich seit vielen Jahren beschäftige, sind Blumen. Interessant werden sie für mich aber erst im Stadium des Zerfalls.
Im Atelier, getrocknete Blumen als Motiv
Ich fotografiere Sträuße oder einzelne Blüten, die mir geschenkt wurden oder die ich meiner Frau geschenkt habe, die für mich geblüht haben, und die ich zu schade finde zum Wegwerfen.
Im Arbeitsprozess
Ich arbeite dafür mit abgelaufenen Filmen, Perutz und Agfa, teils noch aus den Vierzigerjahren, mit überlagerten Fotopapieren und altem Entwickler.
Protagonists and prints
Ich kann dabei nicht bestimmen, welches Bild entsteht. Der Zufall und das Material entscheiden darüber.
Blumen, 2009
Die Frage nach THE DEED | DAS WERK ist ein ergänzender und separat präsentierter Teil des THE INTERVIEW IN|DEEDS mit Walter Schels.
Wie schützen Sie sich in der heutigen Zeit vor zu viel Inspiration?
Abschalten.
Wie viel in Ihren Arbeiten ist vorher geplant – wie viel entsteht intuitiv?
Das meiste entsteht intuitiv.
Was sind Ihre (nächsten) Ziele?
Noch möglichst viele meiner ungesehenen Aufnahmen im Archiv sichtbar zu machen.
Wie stehen Sie zum Thema Glauben? Haben Sie Glaubensgrundsätze oder gibt es einen Leitspruch?
Ich bin nicht gläubig.
Welches Projekt würden Sie gerne noch realisieren, wenn fehlende Zeit, mangelnder Mut oder finanzielle Ressourcen keine Rolle spielen würden?
Siehe Frage 11. (Anm. d. Red.: “Noch möglichst viele meiner ungesehenen Aufnahmen im Archiv sichtbar zu machen.”)
Was sind aus Ihrer Sicht Attribute für gute Kunst?
Sie muss mich bewegen.
Wird man als Künstler:in geboren? Oder ist ein Kunststudium aus Ihrer Sicht Pflicht?
Das weiß ich nicht. Jedenfalls macht ein Kunststudium keinen Künstler.
Wem zeigen Sie ein neues Werk zuerst?
Meiner Frau.
Wie sieht die erste Stunde Ihres Tages aus?
Da bin ich privat.
Vielen Dank, Herr Schels.
EPILOG | AKTUELLES
Die Einzelausstellung TRANS von Walter Schels ist vom 26. Juni bis 31. Juli 2021 bei 68projects, dem Project Space der Galerie Kornfeld, in der Fasanenstraße 68, 10719 Berlin-Charlottenburg zu sehen.
Zur Ausstellung ist ein zweisprachig verfasstes Buch (DE/EN) erschienen: Walter Schels. Trans*. Seit 2013 begleitet Walter Schels junge Menschen, die sich als Mädchen empfinden, aber in einem Jungenkörper geboren wurden – und umgekehrt. Schels’ Portraits vermitteln den schwierigen Prozess des Einswerdens mit sich selbst. In Interviews, die mit Schels’ Partnerin, der SPIEGEL-Autorin Beate Lakotta, entstanden sind, berichten die Transmädchen und -jungen von Selbstablehnung und Selbstfindung, von Solidarität und Ausgrenzung, Freundschaft und Mobbing, von Erfahrungen mit Eltern, Geschwistern und der ersten Liebe. Das Buch ist erschienen im Fotografenverlag, umfasst 104 Seiten und kostet 32 Euro. Werfen Sie hier einen Blick ins Buch. Mehr zum Buch auch auf der Webseite des Künstlers.
In Zeiten von Corona, in denen Reisen, Atelierbesuche und persönliche Kontakte unangebracht oder sogar unmöglich sind, bleibt das schriftliche Interview ein wichtiges Medium, um Künstlerpersönlichkeiten vorzustellen, um ihre Botschaften zu verbreiten und um mit Kunstliebhabern in Kontakt zu bleiben. Die Interviews werden von der Redaktion nicht redigiert oder gekürzt und stets im O-Ton wiedergegeben. Daher nehmen wir auch keine Übersetzung des Interviews in Englische bzw. Deutsche vor, es sei den, diese wird