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Dienstag, April 16, 2024

Jeux Esprit Automatique – Die Welten von Lili Lasutra. Ein Beitrag des Kurators Irakli Megre.

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Es gibt zahllose Arten, die Welt darzustellen, und alle sind von gleicher Bedeutung. Einfach weil, wie J.Z. Young sagte, “das Gehirn eines jeden von uns im wörtlichen Sinn seine oder ihre eigene Welt erschafft”. Daher ist es nicht die Aufgabe des Künstlers, die Dinge so zu malen, “wie sie sind” – diese Formulierung ist in der Tat ohne Bedeutung – sondern uns glauben zu machen, dass sie so seien, wie er sie malt. Jeder wirklich schöpferische Künstler bietet uns ein neues Bild von der Welt und überzeugt uns davon, dass dies die Wirklichkeit ist. Und indem er uns überzeugt, fügt er seine Vision unseren Sehgewohnheiten von der uns umgebenden Welt hinzu. Aber der Künstler besitzt, bevor er seine eigenen Visionen entwickelt, selbst Sehgewohnheiten, die er von anderen Künstlern übernommen hat. Weil diese Gewohnheiten tief verankert sind, kann er die Visionen anderer – für gewöhnlich zeitgenössischer Künstler oder auch alten Meistern, zu denen er sich am meisten hingezogen fühlt – nur modifizieren. Durch dieses Zusammenspiel von neuen und bereits existierenden entsteht ein lebendiger Entwicklungsprozess.

Abb. oben: © Lili Lasutra

Wer sich poetischer Begeisterung hingibt, ist ein Gott. Wer sich dem  Denken ausliefert, ist ein Bettler.

Andre Masson

Dass es in der Malerei nichts zu lernen gibt, das leuchtet in philosophischen Kreisen (seit dem Verdikt Platons gegen die Kunst) ein, wenn auch aus anderen Gründen Künstlerin Lili Lasutra für ihre Behauptung voraussetzt. Aber wenn das so ist, warum dann noch Dinge darüber sagen und schreiben, die das nur bestätigen? Die Antwort zeichnet sich in der Frage ab: weil die Beziehung zwischen Malerei und Betrachter für Lili Lasutra nicht theoretischer Art ist.

Der selbstverständliche Vorrang des theoretischen Verhaltens lässt den Betrachter glauben, dass Momente eines rein ästhetischen Vergnügens in der Nähe der Bilder genug sind. Doch das Nichtverstehen gegenüber Bildern hat eine andere Dimension als die reine Ästhetik ihnen zugesteht, gerade damit wird das Unerschöpfliche offenbar. Das Nichtverstehen kann von einer Art sein, dass es sich lohnt, dabei zu verweilen, nur deswegen wechselt sie hin und wieder die “Sprachform”. Akkumulierte Impressionen werden in Form kleiner persönlicher „Notizen” und Schriften festgehalten sowie in Zufallsfotos. Darin liegt der Ton: denn nach der Notiz folgt die Arbeit. Das ist der Grund, weswegen es kein lehrhaft formuliertes Ziel gibt. Es geht darum, anhand bestimmter Erfahrungen die künstlerische Arbeit selbst zu lenken. Zu den ersten Bedingungen der künstlerischen Arbeit in der Gegenwart gehört, dass sie sich in einem grundsätzlich anderen Raum vollzieht als in der Tradition.

Lilli Lasutras Interesse für Archäologie, alte kulturelle Nachlässe und für Mythologie als solche ist Wandlungen unterworfen, die mit ihren Erfahrungen in der Kunst zusammenhängen.

Da es sich unter anderem um Zeichnungen handelt, muss man sich – zunächst jedenfalls – an die Linien halten. Doch es ist nicht eindeutig, in welcher Weise dies geschehen kann, denn die Linien eröffnen keine präzise Darstellung eines Sujets. Sie bewegen sich frei und ungezwungen und es ist gerade diese eigene Bewegung, die dominiert und hier als ein selbständiges Element des Zeichnens auftritt.

Die Züge der Linien sind weder an Gegenstände gebunden, noch sind sie bloße Selbstdarstellung. Sie verlaufen vielmehr derart, dass gleichzeitig die Fläche rhythmisiert wird.

© Lili Lasutra

Linien in Lili Lasutras Werken sind ungezwungen, und so wie sie den Prozess beschreibt, beginnt sie mit Linien aller Art, die Linie dient als Auslöser. Hält man sich hingegen an die Linie als Katalysator und glaubt ihn zu verstehen, dann bleibt man bei der Illustration, da die Linien immer eine Ähnlichkeit mit etwas aufweisen.

Die diverse Linienführung ist nicht zu begreifen. Sonst könnte man auch verstehen, weshalb man später auf eine bestimmte Weise handelt. Allerdings ist diese bestimmte Handlungsweise unvorhersehbar, sie kann niemals verstanden werden: Es bleibt immer bei der “technischen Vorstellungskraft”.

Lili Lasutra sagt: „Ich habe lange nach einer Bezeichnung für diese Unvorhersehbarkeit des eigenen Handelns gesucht und immer nur dieselben Worte dafür gefunden: technische Vorstellungskraft.“ Die technische Vorstellungskraft ist der Instinkt, der jenseits der Gesetze arbeitet und so das Sujet mit der Kraft der Natur auf das Nervensystem zurückwirft.

Das Ziel in Lili Lasutras Werken geht immer über die Auseinandersetzung mit der Funktion des Bildes hinaus, entscheidend ist die Imagination, der Blick ins Innere. „Das Sehen ist neuen Bedingungen unterworfen und damit auch die Produktion des surrealistischen Künstlers, der der inneren Stimme, der Vision, der Halluzination, dem Traum folgt.“(Zitat: Andre Masson). Im 20. Jahrhundert entwickelten sich vor allem in der Plastik Tendenzen, die als organisch bezeichnet werden. Die Formen wirken organoid gewachsen und erwecken Assoziationen an vegetabile Formen. Das Organische bildete seit 1900 einen Gegenpol zu den von technischen und maschinenartigen „Sujets“ bestimmten Bewegungen des Konstruktivismus, des Funktionalismus und des Futurismus. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur vereinzelt auftretend, zeigt sich die organische Form als Hinweis auf natürliches Leben gegenüber dem Konstruierten, dem künstlich Zusammengesetzten.

© Lili Lasutra

Nach Jürgen Fitschen meint der Begriff „organisch“, wo er nicht im medizinischen oder technischen Sinne verwendet wird, „der belebten Natur angehörend“ oder im übertragenen Sinne in der Kunst solche darstellend oder daran anknüpfend. Der Begriff der organischen Form ist tatsächlich die Bezeichnung für eine Form, der in unterschiedlichen Zeiten verschiedene, bald, dieser bald jener künstlerischen Richtung zuzurechnende Bildhauer, Maler, Grafiker und später auch Architekten und Produkt-Designer anhingen.“

Charakteristisch für organische Formen sind schwellende Figuren oder Objekte, deren Kontur sich in einem fließenden Wechsel aus konkaven und konvexen Schwüngen ergibt. Sie erscheinen wie Urformen, die aus sich selbst heraus wachsen, wie „scheinbar von innen nach außen sich kehrende Volumen eines Körpers “, die das Entstehen und Gedeihen, das Lebendige symbolisieren. Die Modellierung organischer Formen reicht bis hin zu Aushöhlungen von Körpern und Objekten, wobei ebenso mit Löchern und Aussparungen in den plastisch wirkenden Formen gearbeitet wird.

,,Von außen gesehen kann unsere Zeit im Gegensatz zur ‘Ordnung’ des letzten Jahrhunderts – ebenso mit einem Wort bezeichnet werden – Chaos. Die größten Widersprüche, die gegensätzlichsten Behauptungen, das Negieren des Ganzen zugunsten des Einzelnen, umwerfen des Gewohnten und Versuche, das Umgeworfene sofort wieder aufzurichten, das Zusammenprallen der verschiedensten Ziele bilden eine Atmosphäre, die den heutigen Menschen zum Verzweifeln und zu einer scheinbar noch nie da gewesenen Verwirrung führt.”

Wasily Kandinsky

Andre Breton formulierte 1924 in seinem surrealistischen Manifest den Automatismus als die neue, wegführende Methode und unverzichtbare Inspirationsquelle. Andre Masson wird wohl der bedeutendste Vertreter dieser Theorie sein, da er nicht zuletzt auch die gesetzten Grenzen des Surrealismus und ,,die Sackgasse der schlichten surrealistischen Symbole” überwindet. Es entstehen in Lilis Zeichnungen organische Formen und Körper, die sich in stetiger Metamorphose zwischen Figuration und Abstraktion befinden. Doch was sind die unterschiedlichen malerischen Herangehensweisen des Automatismus und der Abstraktion, die sich bis in die Gegenwart gehalten haben? Warum entstand das Bedürfnis es zu brechen? In was gehen die beiden Prinzipien konform und was entwickelt sich aus der Theorie des Automatismus? Im Mittelpunkt stehen dabei der geschichtliche Hintergrund und die malerisch-technischen Verfahren der beiden Theorien. Die Fragen nach einer Malerei ohne Gegenstand waren jedoch nicht nur die Fragen der Malerei des 20. Jahrhunderts. Sondern die Frage bleibt in unserer Gegenwart aktuell.

Man kann behaupten, dass die Serie “Jeux Esprit Automatique” aus einem sehr spontanen Entschluss heraus entstanden ist, jedoch gab es andere Gründe dafür. Doch ist es erforderlich, ein paar Jahre in Lili Lasutras Schaffensphase zurückzugehen. Bereits zu Ende des Jahre 2013 hatte sie erstmals begonnen, sich den “automatischen” Zeichnungen zu widmen, jedoch wird erst später der Versuch des Automatismus immer deutlicher in ihren Werken.

Lili meinte, dass der Automatismus, also das Unbewusste, Ungeplante das Wahre sei. In diesem Sinne beginnt Lili, sich intensiver mit den automatischen Zeichnungen auseinanderzusetzen. Werner Spies beschreibt in seinem Aufsatz, wie eine “automatische” Zeichnung entsteht: „Schnelligkeit dient dem Künstler dazu, die Inhibition zu überwinden, den bewussten Arbeitsprozess zu verringern, und damit unbewusste Stimmungen zum Ausdruck zu bringen. Die Hand bewegt sich frei über das Blatt. Zu Beginn bewegt sie sich in der Mitte des Zeichenblattes. Dann dehnt sich die Zeichnung aus, dehnt sich den Rändern zu aus.“

Was hier jedoch wie eine Art Anleitung klingt, soll in Wirklichkeit schnell und spontan ausgeführt werden. So ist zumindest die Vorstellung. Nach einigen Jahren des Versuchs  möchte Lili auch Bilder, oder besser gesagt Ölbilder, mit dieser Technik bzw. diesen Verfahren erschaffen. Dies stellte sie schnell vor einige Schwierigkeiten, denn Ölfarbe hat ein anderes Verhalten als Tusche, mit der sie bisher Zeichnungen angefertigt hat. Lili selbst sagt folgendes: „Notwendigkeit hat sich mir aufgedrängt, als mir die Kluft zwischen meinen Zeichnungen und meinen Ölgemälden bewusst wurde – die Kluft zwischen der Spontanität und raschen Ausführung der ersteren und der fatalen Reflexion in den letzteren”.

Zudem bringt die neue Farbigkeit andere Aspekte in die Bilder ein, deren Lili Lasutra in den “automatischen Zeichnungen” nicht bedenken musste, da diese fast ausschließlich mit Tusche angefertigt wurden.

Dennoch wurde wie bei den Zeichnungen mit Tusche das Erscheinen, das Auftauchen des Figurativen hervorgetrieben und das heterodoxe Bild fand seinen Abschluss dank einem Pinselstrich oder manchmal einem Fleck reiner Farbe. Andeutungsweise. „Ich habe zuerst eine Empfindung farbiger Rhythmen. Mit der Farbe dargestellt, haben diese Rhythmen vielleicht ihren Ursprung in dem, was ich äußerlich  gesehen habe, doch ich weiß nichts darüber. Plötzlich fühle ich mich von einer Farbe erfüllt, die rhythmisch ist. Das notiere ich zunächst, direkt auf dem Papier. Darauf betrachte ich prüfend die entstandenen Flecken, und das nimmt mit diesen farbigen Flächen seinen Fortgang. Ich betrachte es prüfend. Warum? Weil es mir die Farbe suggeriert, das ist alles. Die Bewegung der Farbe selbst.“ 

Wenn man diese Aussage von Lili Lasutra genauer betrachtet, erscheint es einem, als ob Automatismus auch hier seine Gültigkeit behält. Nichts scheint geplant, absichtlich überlegt oder vorbereitet zu sein – also ein perfektes Beispiel für ein automatisches Bild. Sie widerspricht sich hier selbst, denn „alles, was ich male, bezieht sich auf das, was ich gesehen, erlebt habe, auf alles, was mir bewusst wurde. Wenn nichts rein plastisch ist, so ist auch nichts rein imaginär: meine Allegorien, meine Themen schöpfen ihre Substanz aus dem Ereignis, aus der physikalischen Umwelt, in der ich lebe “.

Im Ganzen ist es der Künstlerin gelungen, ihren Werken eine individuelle Handschrift einzuhauchen, die sich durch einen expressiven visuellen Stil, das Spiel mit “Erzähl- und Genrekonventionen” und intermedialen Versatzstücken und nicht zuletzt durch ihre individuelle Darstellungsmethode  auszeichnet.

Ziel – charakteristische Ästhetik herauszustellen, die Lili Lasutra als Autorin ihres Œuvre auszeichnet. Hierbei soll sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler und stilistischer Ebene das Spezifische und Typische ihre Bilderwelten herausgearbeitet, sowie die Funktion der inszenatorischen Mittel erläutert werden. In diesem Zusammenhang muss zudem auf den daraus resultierenden Umgang Lilis mit künstlerischen Orientierungsmustern und tradierten Werten eingegangen werden.

Text: Irakli Megre, Kurator

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