PROLOG | PERSÖNLICHES
Virginia, stellen Dir vor, Du würdest uns in Deinem Atelier oder Zuhause empfangen. Wo sprechen wir zusammen, wo treffen wir Dich? Wir würden uns in meinem Atelier treffen, einem hellen, modernen Raum inmitten historischer Gebäude am Stadtrand von Wetzlar, etwa 80 km von Frankfurt entfernt. Vielleicht sitzen wir an Deinem Lieblingsplatz? Mein Lieblingsplatz ist vor der Leinwand, an der ich gerade arbeite.
Abb.oben: Virginia Glasmacher in her Studio, Wetzlar, 2023
Du bist 1969 in Richmond (Virginia) in den USA geboren. Heute lebst und arbeitest Du in Wetzlar, Deutschland. Welche Stationen und Menschen haben Dich in Deinem bisherigen Leben besonders geprägt? Meine Familie verbrachte in den späten 1960er Jahren einige Jahre in den USA und zog Anfang der 1970er Jahre zurück nach Deutschland. Ich wuchs in einer kleinen Stadt südlich von München in der Landschaft des Blauen Reiters auf. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist ein Klassenausflug zum Lenbachhaus in München, wo mich Franz Marcs “Tiger“ hypnotisierte und so beeindruckte, dass ich noch Jahre später immer wieder zurückkehrte und stundenlang mit meinem Skizzenbuch davorsaß. Rückblickend war es eine Art Erweckungsmoment, das erste Mal, dass ich mich in der Empfindung von Farbe verlor.
Welche Schriftsteller*innen findest Du derzeit spannend und welche Bücher finden sich in Deinem Bücherregal? Ich interessiere mich sehr für zeitgenössische Schriftstellerinnen wie Meg Wolitzer (The Interestings) und fühle mich oft zu Büchern hingezogen, die sich mit interkulturellen oder geschlechtsspezifischen Identitäten befassen, wie z. B. Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie oder Girl, Woman, Other von Bernadine Evaristo. Welche Bücher haben Dich beeinflusst oder geprägt? Viele, aber diese sind mir im Moment sehr präsent: Martin Gayfords Man with a Blue Scarf: On sitting for a Portrait von Lucian Freud, Erling Kagges Silence in the Age of Noise und die Kunstmarkt-Dokumentation The Price of Everything von Nathaniel Kahn. Was liest Du aktuell und wo liegt das Buch griffbereit? Stolen Focus von Johann Hari liegt auf dem Bücherregal neben meinem Bett. Welche Musik hörst Du und wann? Im Atelier höre ich gern klassische Musik (vor allem Bach, Chopin, Schubert); zu Hause ist mein Geschmack moderner.
Wenn Du etwas für uns kochen würdest, was wäre es? Wahrscheinlich würde ich etwas mit Kichererbsen oder schwarzen Linsen machen, die in fast allem vorkommen, was ich mache. Was isst Du am liebsten? Siehe oben, und Kürbis, französischen Käse und Schokolade. Was hältst Du vom Frühstücken? Klein und basic unter der Woche, am Wochenende gern ausgedehnt mit Freunden oder der Familie. Welchen Sport oder Ausgleich zu Deiner künstlerischen Arbeit betreibst Du? Meine Yogamatte steht im Atelier griffbereit für einen kurzen Sonnengruß zwischen Malschichten. Hast Du besondere Leidenschaften (Hobbies), für die Du brennst, und wenn ja, welche? Ich koche sehr gern und lasse den Ateliertag oft mit einem neuen Ottolenghi-Rezept ausklingen. Welches Persönlichkeitsmerkmal macht Dich ganz besonders aus? –
INTERVIEW | ARTIST + POSITION
Wir möchten kurz Deinen künstlerischen Werdegang vorstellen. Von 1989 bis 1993 hast Du Kunst und Semiotik an der Brown University in Providence, Rhode Island und Kunstgeschichte an der New York University in den USA studiert. 2001 hast Du an der Internationalen Sommerakademie für Kunst in Salzburg teilgenommen, und zwar in der Malklasse von Zhou Brothers. Wie bist Du zur Kunst gekommen? Warum Kunst?
Mit 16 Jahren wechselte ich die Schule und verbrachte die letzten zwei Jahre auf einem britischen Internat in der Nähe von London. Zum ersten Mal ging es im Kunstunterricht nicht um Aufgaben; wir wurden ermutigt, im Atelier selbstständig zu arbeiten. Mein Kunstlehrer erwartete von uns, dass wir neben unserer Arbeit im Atelier auch ein schriftliches Tagebuch führten, und ermunterte mich, schriftlich zu reflektieren, was ich sah und erlebte. Seine kryptischen und zum Nachdenken anregenden Bemerkungen an den Rändern meines Tagebuchs und im Unterricht verbunden mit der Freiheit, im Atelier zu experimentieren, haben mich auf meinen Weg in die Kunstwelt gebracht.
Was macht Dich aktuell glücklich?
Malen, besonders der Moment an dem klar ist, dass ein gutes Bild fertig ist.
Was macht Dich aktuell Angst?
Die internationale politische Landschaft, der Zustand unseres Planeten, aber ich versuche, mich nicht zu sehr auf Dinge zu konzentrieren, die ich nicht (oder nur bedingt) beeinflussen kann.
Glaubst Du, dass Kunst eine gesellschaftliche Verantwortung trägt? Und was denkst Du, was sie bewirken kann?
Kunst kann eine sehr wichtige Rolle bei der Bewusstseinsbildung spielen, aber für manche Künstler ist dies wichtiger als für andere. Was ich im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung für wichtiger halte, ist, dass die Kunst durch Vermittlung einem möglichst breiten Publikum zugänglich gemacht wird.
Was macht Deine Kunst aus? Worum geht es in Deinem Werk – was sind die zentralen Themen?
Seit etwa 20 Jahren interessiere ich mich für die Schnittstelle von Abstraktion und Landschaft. Die Wahrnehmung und das Erleben der Natur sind Ausgangspunkte, aus denen ich Bilder aufbaue, die als “Farblandschaften” oder “Malereilandschaften” wahrgenommen werden können. Ich interessiere mich besonders für die Beziehung zwischen den Strukturen und Materialien (Pigmente, Bindemittel, Pinsel/Rakel) und wie sie die Struktur, den Rhythmus und die Dynamik des Bildgeschehens bestimmen. Ich arbeite in der Tradition des Informel und die Erkundung eines breiten Spektrums von Ausdrucksmöglichkeiten spielt eine zentrale Rolle in meiner Arbeit.
THE DEED | DAS WERK: Virginia Glasmacher
Die in Richmond (Virginia), USA, geborene und in Wetzlar lebende Künstlerin Virginia Glasmacher (*1969) spricht im Rahmen ihres Interviews über die zentrale Botschaft ihres künstlerischen Werks.
Bitte beschreibe das Kernthema und die zentrale Botschaft Deines Werks.
Ausgangspunkt für meine Arbeit ist die Empfindung von Farbe und das Erleben von Natur. Wichtige Bezugspunkte sind die Expressionisten – die Künstler des Blauen Reiters und Der Brücke und die amerikanischen Abstrakten Expressionisten. Darüber hinaus interessiert mich die Rolle des Zufalls als Gegenstand der malerischen Auseinandersetzung. Hier kommt natürlich auch das abstrakte Werk von Gerhard Richter ins Spiel.
Ich bin daran interessiert, gegensätzliche Elemente (sowohl formal als auch aus konzeptionell) miteinander zu verweben. Einerseits kann das eine Auffassung von Malerei bedeuten, die prozessorientiert ist und selbstreflexiv, in der die Haptik der Farbe und ihre Beschaffenheit auf der Leinwand ebenso spürbar sind wie die Wirkung der Farbe. Zum anderen geht es mir um einen Bildraum, der Bezüge zur Realität erschließt.
Stelle uns die Arbeit vor, die exemplarisch für die Botschaft Deines Werks steht, oder diese aus Deiner Sicht am besten verkörpert.
Ich möchte auf die Arbeiten hinweisen, die derzeit in der Galerie Kremers, Berlin, zu sehen sind und die Sie hier sehen können. Die beiden großen Leinwände “Ausblick, Kadmiumgrün-Ultramarin” (2022) und “Ausblick, Ultramarin-Kadmiumrot” (2022) veranschaulichen mein Interesse an der Gegenüberstellung von formalen und konzeptionellen Malsprachen.
Flächen mit flüssigen Farblasuren und gestischen Pinselstrichen befinden sich auf der Leinwand im Dialog mit Strukturen, die mit handwerklichen Werkzeugen wie der Rakel oder der Kelle entstanden sind. Emotional aufgeladene Markierungen mit dem Pinsel werden neutralen, objektiven Malspuren gegenübergestellt, bei denen das Element des Zufalls eine Rolle spielt. Ich bin daran interessiert, die verschiedenen Sprachen miteinander zu verweben, um eine neue Identität zu schaffen. In der hier angefügten Serie von Kleinformaten wird die Konfrontation zweier Malsprachen zum Mittelpunkt des Bildgeschehens.
Was ist das Ziel Deiner Kunst, Deines künstlerischen Werks? Was soll es beim Betrachter bewirken?
Ich sehe meine Arbeit als ein Mittel, um dem, wie ich die Welt erlebe – meine Umgebung, meine Erfahrungen, die Themen, die mich beschäftigen – eine Form zu geben. Es ist ein Angebot an den Betrachter, sich auf eine Reise der Reflexion und der sinnlichen Erfahrung einzulassen. In gewisser Weise biete ich dem Betrachter eine Projektionsfläche, um seine eigenen Erfahrungen einzubringen und das Bild im Prozess der Rezeption zu vervollständigen.
Um mit einem Zitat von Gerhard Richter zu schließen: „Abstrakte Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber dennoch schließen können.“
Die Frage nach THE DEED | DAS WERK ist ein ergänzender und separat präsentierter Teil des THE INTERVIEW IN|DEEDS mit Virginia Glasmacher..
Wie schützt Du Dich in der heutigen Zeit vor zu viel Inspiration?
Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes im Atelier ansteht, und darauf, mich an der Leinwand ständig weiterzuentwickeln.
Wie viel in Deinen Arbeiten ist vorher geplant – wie viel entsteht intuitiv?
Meine Arbeit ist prozessorientiert, Intuition spielt eine große Rolle.
Was sind Deine (nächsten) Ziele?
I möchte mich als nächstes mehr mit dem Großformat auseinandersetzen.
Wie stehst Du zum Thema Glauben? Hast Du Glaubensgrundsätze oder gibt es einen Leitspruch?
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Welches Projekt würdest Du gerne noch realisieren, wenn fehlende Zeit, mangelnder Mut oder finanzielle Ressourcen keine Rolle spielen würden?
Gute Frage, vielleicht eine großformatige Kunst am Bau Arbeit.
Was sind aus Deiner Sicht Attribute für gute Kunst?
Schönheit, konzeptionelle oder formale Entschiedenheit.
Wird man als Künstler*in geboren? Oder ist ein Kunststudium Pflicht?
Ich denke, man braucht eine Leidenschaft, ein unbestrittenes Engagement für die Kunst, um eine lebenslange Beschäftigung zu befeuern, aber eine formale Ausbildung ist auch wichtig.
Wem zeigst Du ein neues Werk zuerst?
Meinem Mann oder meinen Schwestern.
Wie sieht die erste Stunde Deines Tages aus?
Die allererste Stunde steht im Dienst der Familie (unsere beiden Kinder auf den Schulweg bringen), anschließend ein Spaziergang im Wald.
Sind im Zeitalter des Internets der Dinge Galerien noch notwendig? Wenn ja, warum und wofür?
Galerien spielen definitiv immer noch eine sehr wichtige Rolle, wenn es darum geht, das Verständnis für das Werk zu fördern und KünstlerInnen und Sammler zusammenzubringen, auch wenn digitale Kanäle als Inspirationsquellen zunehmend an Bedeutung gewinnen.
Social-Media – Segen oder Fluch?
Positiv an den sozialen Medien ist auf jeden Fall, dass sie uns die Möglichkeit geben, leichter mit der Kunstwelt auf der ganzen Welt in Kontakt zu treten. Aber es erfordert viel Willenskraft und Disziplin, die Zeit und Energie, die man online verbringt, zu begrenzen.
EPILOG | AKTUELLES
Die Ausstellung Virginia Glasmacher – Neue Arbeiten ist vom 18. Februar bis 25. März 2023 in der Galerie Kremers, Schmiedehof 17, 10965 Berlin–Kreuzberg zu sehen. Sie erreichen die Galerie unter info@galerie-kremers.de, Tel.: +49 30 46 99 80 68 oder Mobil: +49 176 64 72 72 47.
www.instagram.com/virginiaglasmacher
Die DEEDS-Interviews werden von unserer Redaktion nicht redigiert oder gekürzt und stets im O-Ton wiedergegeben. Daher nehmen wir auch keine Übersetzung des Interviews in Englische bzw. Deutsche vor, es sei denn, diese wird seitens des/der Interviewten eingereicht, oder wir werden mit der Übersetzung betraut. Hier wurde die deutsche Version des Interviews von der Künstlerin eingereicht.