Das Georg Kolbe Museum freut sich, im Herbst 2024 erstmals in Berlin das künstlerische Werk der österreichisch-französischen Künstlerin, Choreografin und Regisseurin GISÈLE VIENNE (*1976) zu präsentieren. Die Ausstellung findet im Rahmen der Berlin Art Week statt und ist Teil eines gemeinsamen Projekts mit dem Haus am Waldsee, welches das Werk Gisèle Viennes als Einzelausstellung zeigt und den Sophiensælen, die ihr Stück Crowd aufführen. In der Ausstellung im Georg Kolbe Museum treten Gisèle Viennes zeitgenössische Arbeiten in einen zeitübergreifenden Dialog mit historischen Werken von Künstler*innen der europäischen Avantgarde – wie CLAUDE CAHUN, HANNAH HÖCH, SOPHIE TAEUBER-ARP und EMMY HENNINGS oder auch weniger bekannten wie HERMINE MOOS, MARIA JAREMA und MILADA MAREŠOVÁ. Diese Begegnung ermöglicht einen einzigartigen Blick auf die vielseitige Verwendung von Puppen in der Kunst der Moderne und der Gegenwart und behandelt unter anderem Themen wie Emanzipation und soziale Kritik.
Abb. oben: Gisèle Vienne, FRANKY AND KERSTIN, Foto: Estelle Hanania © VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Gisèle Vienne hat über mehr als zwei Jahrzehnte ein komplexes und eigensinniges Werk geschaffen, das unsere Wahrnehmungsmuster hinterfragt und neue künstlerische Sprachen einsetzt, um strukturelle gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. Viennes Kreationen, sowohl auf der Bühne als auch in ihrer visuellen Praxis, werden zusammen mit Tänzer*innen und Schauspieler*innen entwickelt und sind oft von anthropomorphen Figuren und Puppen belebt. Diese lebensgroßen Puppen, die in der figurativen Bildhauerei angesiedelt sind, entfalten eine politische Dimension in Bezug auf den Körper als einen umkämpften Ort, indem sie kulturell und sozial konstruierte Wahrnehmungsmuster in Frage stellen. Durch ihre räumliche Inszenierung im Großen Atelier des Georg Kolbe Museums erkundet Vienne Sehnsüchte und Ängste einer krisengeschüttelten Jugend, inszeniert die Empfindungen ihrer Protagonist*innen in ihren politischen und gesellschaftlichen Aspekten und erforscht damit die Sinnlichkeit, Wut und Kreativität von Jugend- und Gegenkulturen in ihrem ganzen subversiven Potenzial.
Erstmals zu sehen ist Viennes Film Kerstin Kraus, der 2024 eigens für die Ausstellung im Georg Kolbe Museum fertiggestellt wurde. Der Film beleuchtet die tiefgreifende Beziehung zwischen Mensch und Puppe und untersucht Grenzen der Identität und Selbstdarstellung. Viennes visuelle Erzählweise behandelt Fragen des Daseins und des Todes, welche die Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche darstellen.
Die Künstler*innen der Avantgarde suchten gerade nach dieser Vielschichtigkeit, die in ihrer Nutzung des Puppentheaters als Raum für interdisziplinäre Experimente und als Mittel zur politischen und sozialen Kritik Ausdruck findet. Ausgehend von der zentral präsentierten Werkgruppe Gisèle Viennes zeigt die Ausstellung Künstler*innen der europäischen Avantgarde, die in ihren Arbeiten Puppen (Marionetten, Handpuppen) verwendeten oder sich ihnen durch Posen, Kostüme oder Bühnenbewegungen annäherten. In der Ausstellung sind unterschiedliche historische Puppen, Filme und Fotografien zu sehen. Für Künstler*innen, die auf der Suche nach neuen Freiheiten und Quellen für die Erneuerung der Kunstsprache waren, bot das Puppentheater einen ausgezeichneten Raum für interdisziplinäre Experimente, da es Möglichkeiten eröffnete, an der Grenze zwischen Disziplinen wie Malerei, Bildhauerei, kinetischer Skulptur, Tanz und Choreografie zu arbeiten. Für die Künstler*innen wurde die Marionette zu einer neuen, vollwertigen künstlerischen Ausdrucksform und sie nutzten sie, um die in der Kunst und der Populärkultur vorherrschenden Stereotypen von Weiblichkeit zu dekonstruieren und die sozialen Beziehungen und bürgerlichen Sitten zu kritisieren. Die Ausstellung im Georg Kolbe Museum bietet somit einen tiefen Einblick in das Themenfeld der Puppen als künstlerische Ausdrucksform. Das titelgebende Zitat stammt von der Mitbegründerin der Dada-Bewegung Emmy Hennings. Es verweist auf die Verbindung historischer künstlerischer Ansätze im Suchen und Finden des Selbst unter gesellschaftlichen Einschränkungen und verbindet so die von Gisèle Vienne behandelten aktuellen Themen in einem zeitlichen Abstand von 100 Jahren.
Die Ausstellung ist Teil der Kooperation zwischen dem Georg Kolbe Museum, dem Haus am Waldsee und den Sophiensælen, die Gisèle Viennes Werk in seiner ganzen Komplexität im Rahmen der Berlin Art Week 2024 in die Stadt bringen und unterschiedliche Zugänge zu ihrer facettenreichen Praxis, die sich zwischen Skulptur und Installation, Fotografie und Film, Choreografie und Theater ansiedelt, schafft. Während im Haus am Waldsee eine groß angelegte Einzelausstellung von Gisèle Vienne mit dem Titel This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play (12.09.2024-12.01.2025), das gesamte Haus einnimmt, finden in den Sophiensælen Aufführungen des Stücks Crowd am 14., 15. und 16. November 2024 statt. Außerdem wird im Rahmen der Berlin Art Week der Film Jerk vorgeführt, mit anschließend stattfindendem Künstlerinnengespräch zwischen Gisèle Vienne und Florentina Holzinger am 15. September 2024.
Der historische Ausstellungsteil im Georg Kolbe Museum wird kuratiert von der Kunsthistorikerin und Kuratorin Joanna Kordjak, die an der Zachęta – Nationalgalerie für Kunst in Warschau tätig ist.
Zur Ausstellung im Georg Kolbe Museum erscheint ein Begleitheft mit Beiträgen von Joanna Kordjak, Dr. Christophe Koné (Williams College, USA) und Eva da Silva Antunes Alves, sowie eine vom Haus am Waldsee herausgegebene neue Publikation zu Gisèle Vienne bei Spector Books.
Highlights aus dem Rahmenprogramm
14. September 2024, 16 Uhr
Dialogischer Austellungsrundgang mit der Ausstellungskuratorin Joanna Kordjak
15. September 2024, 14 Uhr
Screening Jerk und Künstlerinnengespräch mit Gisèle Vienne und Florentina Holzinger in den Sophiensælen
14., 15., 16. November 2024
Crowd Aufführungen in den Sophiensælen
21. November 2024, 19 Uhr
Vortrag “Verpuppte Kunst. Marionetten in der eurpäischen Avantgarde” von Elisabeth Heymer im Einstein Forum Potsdam
08. März 2025, 15:30 Uhr
Vortrag zur Künstlerin Alexandra Exter und Gesprächsrunde zu Women in War mit dem Ukrainischen Institut
Eine Kooperation mit der Ernst Busch Schauspielschule
11. Januar, 15:30 Uhr
Im Zuge der Ausstellung werden Studierende des Diplomstudiengangs „Zeitgenössisches Puppenspiel“ der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch die digitale Animation einer Marionette von Alexandra Exter erarbeiten. Das entstandene Werk wird am 11. Januar feierlich in die Ausstellung aufgenommen und in einem Gespräch mit dem Publikum von den Studierenden erläutert und kontextualisiert.
Über Gisèle Vienne
Gisèle Vienne ist eine französisch-österreichische Künstlerin, Choreografin, Theater- und Filmregisseurin. Seit ihrer Kindheit wurde sie von ihrer Mutter, Dorothéa Vienne-Pollak, in der bildenden Kunst ausgebildet. Sie studierte Tanz und Musik, Philosophie und Puppenspiel. In den letzten zwanzig Jahren waren ihre Arbeiten in Europa, Asien und Amerika auf Tournee, darunter die Produktionen: Showroomdummies #1, #2, #3, and #4 (2001/2009/2013/2020), I Apologize (2004), Kindertotenlieder (2007), Jerk (2008), This Is How You Will Disappear (2010), LAST in Zusammenarbeit mit dem Puppentheater Halle, Crowd (2017), L‘Etang (2021) und EXTRA LIFE (2023, eingeladen zum Theatertreffen 2024). 2021 führte sie Regie bei dem Film Jerk. Viennes Fotografien und Installationen wurden in zahlreichen Museen ausgestellt, unter anderem im Centre d’Art Contemporain in Genf; Centre Pompidou in Paris; Museo Nacional de Bellas Artes in Buenos Aires; Whitney Museum of American Art in New York, und Musée d’Art Moderne de Paris. Sie hat ihre Fotografien in zwei Büchern veröffentlicht: JERK/Through Their Tears (2011) in Zusammenarbeit mitJonathan Capdevielle, Dennis Cooper und Peter Rehberg sowie 40 PORTRAITS (2003–2008) in Zusammenarbeit mitDennis Cooper und Pierre Dourthe (2012). Ihre Arbeit hat zu diversen Publikationen und die Originalmusik ihrer Shows zu mehreren Alben geführt.
Über das Georg Kolbe Museum
Das Georg Kolbe Museum im Berliner Westend befindet sich im denkmalgeschützten Künstlerhaus des Bildhauers Georg Kolbe (1877–1947), einem einzigartigen sachlich, bauhausgeprägten Ensemble von 1928 mit innenliegendem Skulpturengarten. 1950 als Stiftung zur Erschließung, Bewahrung und Vermittlung von Kolbes künstlerischem Nachlass gegründet, versteht sich das Haus heute als Ort der Begegnung, des Lernens, des Austauschs und der Forschung. Das Museum fördert mit Ausstellungen und Vermittlungsangeboten zur Klassischen Moderne und der zeitgenössischen Kunst einen lebendigen Dialog, der historische Fragen mit dem Heute verbindet. Das Museum beherbergt eine bedeutende Sammlung moderner Kunst aus dem Umfeld von Georg Kolbe und konzentriert sich momentan stark auf die Aufarbeitung des Schaffens des Künstlers während des Nationalsozialismus. Einen wichtigen Stellenwert in der Museumsarbeit hat insbesondere die Forschung zu Bildhauerinnen der Moderne. Andere Kernthemen des Museums neben der Zeit der Moderne, ihrer Kritik und der Bildhauerei sind der Tanz und die Fotografie, sowie die Architektur des Neuen Bauens. Einzelausstellungen im Bereich zeitgenössischer Kunst der letzten Jahre waren u.a. Noa Eshkol (2024), Lin May Saeed (2023), Leiko Ikemura (2023), Mona Hatoum (2022) oder Thomas Schütte (2021) gewidmet. Ausstellungen im Bereich der Klassischen Moderne waren u.a. „Tilla Durieux. Eine Jahrhundertzeugin in ihren Rollen” (2023); „Der absolute Tanz. Tänzerinnen der Weimarer Republik“ (2021) oder „Zarte Männer in der Skulptur der Moderne“ (2018).
WANN?
Eröffnung: Donnerstag, 12. September 2024, 18 Uhr
Ausstellungsdaten: Freitag, 13. September 2024 – Sonntag, 09. März 2025
Öffnungszeiten: Mittwoch – Montag, 11 – 18 Uhr
WO?
Georg Kolbe Museum
Sensburger Allee 25
14055 Berlin