Ab 14. September 2024 feiert Lübeck 100 Jahre „Der Zauberberg“. Die Geburtsstadt von Thomas Mann widmet dem Weltbestseller das gesamte Museumsquartier St. Annen. Gleich drei Häuser der LÜBECKER MUSEEN greifen das Jubiläum in ihrem Programm auf: eine kulturgeschichtliche Ausstellung des Buddenbrookhauses, Interventionen in der mittelalterlichen Sammlung des St. Annen Museums und eine zeitgenössische Kunstinstallation der britischen Künstlerin Heather Phillipson.
Abb. oben: Luftbild Davoser Höhenklinik, Archiv Günther Schwarberg, Hamburg
Thomas Manns Der Zauberberg. Fiebertraum und Höhenrausch
Die ab dem 14. September laufende Ausstellung „Thomas Manns Der Zauberberg. Fiebertraum und Höhenrausch“ des Buddenbrookhauses erzählt von den zentralen Themen und Konflikten des Romans: Tod und Leben, Begehren und Liebe, Krieg und Frieden. Diese zeitlosen Themen verknüpft die Ausstellung durch aktuelle Bezüge eng mit unserer Gegenwart. Der Roman, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs spielt, weist auch hundert Jahre nach seinem Erscheinen Parallelen mit unserer Zeit auf: Nationalismus, Wissenschaftsferne, Ignoranz und Hassrede sind über alle zeitlichen Brüche und Epochenwechsel hinweg aktuell.
„Der Zauberberg“ erzählt die Geschichte des jungen Hamburgers Hans Castorp, der für drei Wochen auf Urlaub in ein Schweizer Lungensanatorium fährt – um am Ende sieben Jahre zu bleiben. Dort, auf dem „Berghof“, trifft sich die tuberkulosekranke Elite Europas und konfrontiert Hans Castorp mit den großen Themen des Lebens. Erst der „Donnerschlag“ des Ersten Weltkrieges beendet im Roman alles Sinnieren.
Inspiriert von einem Besuch in einem Davoser Sanatorium, das Thomas Mann bei einem Besuch seiner Frau Katia kennengelernt hatte, begann er 1913 mit der Arbeit an „Der Zauberberg“. Nach Krieg und Zusammenbruch des Kaiserreichs und der Neukonstituierung der Gesellschaft als demokratische Republik, vollendete er das Werk, das 1924 erschien und als „Magic Mountain“ zum Weltbestseller wurde.
Eine Reise in sieben Ausstellungsstationen
Sieben ist die magische und strukturgebende Zahl des „Zauberbergs“. Entsprechend gliedert sich auch die Ausstellung in sieben Abschnitte, die den knapp 1000-seitigen Roman der Weltliteratur auf 250qm sichtbar, hörbar, fühlbar machen – nicht nachgebaut in Davoser Kurkulisse, sondern seinem philosophischen Gehalt gewidmet. Immer wieder neu und überraschend sind dabei die Interventionen der Gegenwart.
Am Anfang steht die Entstehungsgeschichte des Romans: Die Besuchenden erhalten einen Blick in das Arbeitszimmer von Thomas Mann und in die Fülle an Texten und Diskursen, die Thomas Mann im „Zauberberg“ verarbeitet hat, während sich zeitgleich die Welt radikal veränderte. Das lange 19. Jahrhundert endet mit dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs, alte Ordnungen verschwinden, neue suchen sich zu etablieren. Zugleich schreitet die Technisierung in der medizinischen Diagnostik in Meilenstiefeln voran, von der auch der „Zauberberg“ erzählt. Gemeinsam mit Hans Castorp geht man auf die Reise in das Lungensanatorium Berghof. Von medizinhistorischen Objekten bis hin zur heutigen Smartwatch zeigen die Exponate, wie damals im Roman und heute Körperfunktionen gemessen und bewertet werden. Indem die Aufmerksamkeit ständig um die erfassten Körperdaten kreist, werden sie zu einem zentralen Lebensinhalt.
Neben Diagnostik und Körperkontrolle greift die Ausstellung das Thema der Behandlung auf. Der Mythos von der guten Luft der Schweizer Alpen wirkt heute als Heilmittel der Schwindsucht befremdlich, aber trotzdem erfreuen sich Luftgütesensoren reger Abnahme. Anhand von medizinischen Instrumenten und Heilgegenständen aus Vergangenheit und Gegenwart zeigt die Ausstellung, wie die Themen des Romans die Menschen damals und heute bewegen und führt die Aktualität des Textes buchstäblich vor Augen.
Das gilt ebenso für die vier Ausstellungsabschnitte, die Hans Castorps Innenleben gewidmet sind, seiner traumhaften Erkundung von den Wesensmerkmalen des Lebens. Dazu zählen Endlichkeit und Tod, Erotik und Begehren, gesellschaftliches Miteinander und Gewalt – und die Sehnsucht nach einem Sinn. Ein besonderer Fokus liegt auf dem erotischen Verlangen, das Hans Castorp im Sanatorium verweilen lässt und das sich kaum vom Eskapismus unserer Tage unterscheidet. Folgerichtig lädt ein übergroßes, organisch geformtes Sitzmöbel zum Verweilen ein. Umgeben von leicht psychedelischer Wandgrafik, in der sich Gliedmaßen umschlingen, fällt das Aufstehen schwer. Die Nahaufnahmen der Wandgestaltung mögen pornografisch anmuten, sind aber Close Ups antiker Plastiken.
Die im Roman deutlich herausgearbeiteten politischen Auseinandersetzungen der beiden Widersacher Naphta und Settembrini zeugen von der „großen Gereiztheit“ unserer Zeit. An die Stelle ausufernder Figurendialoge des Romans treten in der Ausstellung allerdings aktuelle Zitate. Die Gedankenwelten und Dispute der Figuren sind nicht von gestern, sondern von erschreckender Gegenwärtigkeit. Auch hier wird deutlich, wie sehr die Tonalität der politischen Agitatoren von damals der heutigen ähnelt.
Die Ausstellung endet wie der „Zauberberg“ mit Gewalt und Krieg. Am Schluss steht die Frage „Wird aus diesem Weltfest des Todes einmal die Liebe steigen?“ – und es ist an dem Publikum selbst, eine Antwort zu finden und diese im Ausstellungsraum zu entwickeln.
„Es war uns wichtig in unserer Jubiläumsausstellung zum Roman deutlich zu machen, worin die Modernität des Textes besteht, nämlich darin, sich Themen und Fragen zu widmen, die die Menschheit seit Anbeginn der Zeit beschäftigen. Der ‚Zauberberg‘ mag nun 100 Jahre alt sein, an seiner Frische und Relevanz hat er nichts verloren. Das wollten wir zum Ausdruck bringen. Natürlich mit dem Ziel, dass die Besucher:innen Lust bekommen, den Roman zu lesen oder wieder zu lesen.“
– Dr. Caren Heuer, seit Februar 2024 Direktorin des Buddenbrookhauses
Die Zauberberg-Ausstellung des Buddenbrookhauses wird im St. Annen Museum Lübeck gezeigt, da das Buddenbrookhaus wegen Umbaus geschlossen ist. Die Ausstellung nutzt die Möglichkeit und bezieht sieben Stationen in der sakralen, mittelalterlichen Sammlung des St. Annen Museums als Zauberberg-Interventionen mit ein. Die ausgewählten Objekte – vom Epitaph bis zur trauernden Mutter Gottes – zeigen, dass Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ nicht nur in die Gegenwart, sondern auch in die Vergangenheit weist.
Zeitgleich zum Zauberberg eröffnet in der Kunsthalle St. Annen die Ausstellung „Extra Time“ der britischen Künstlerin Heather Phillipson, die sich dem Roman künstlerisch nähert. Mit raumgreifenden multimedialen Installationen verwandelt sie die Kunsthalle in ein begehbares Kunstwerk, durch das die Besuchenden traumwandeln können. Dabei bedient sie sich verschiedener Medien, von Videokunst über Skulptur und Musik bis hin zu Texten und Zeichnungen.
Begleitprogramm zu „Thomas Manns Der Zauberberg. Fiebertraum und Höhenrausch“
Das Veranstaltungsprogramm zum 100. Jubiläum des „Zauberbergs“ zieht sich durch das ganze Jahr. Die Schauspielerin Meike Rötzer performt den Roman in hundert Minuten. Lesungen und Vorträge greifen die Romanthemen auf: Bei Harald Jähner (Höhenrausch. Das kurze Leben zwischen den Kriegen) steht beispielsweise die Entstehungszeit des Textes im Fokus, bei Daniel Schreiber (Zeit der Verluste) der Umgang mit Tod und Trauer. Ein besonderes Highlight ist die hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion „Zeitsprünge/Standpunkte: Die große Gereiztheit“. Moderiert von Prof. Dr. Heinrich Detering, Germanist und Leibniz-Preisträger diskutieren Nicole Diekmann, ZDF-Hauptstadtkorrespondentin, und der Medienwissenschaftler Prof. Dr. Bernhard Pörksen ausgehend vom „Zauberberg“ die verrohte Debattenkultur unserer Zeit.
Die Nordischen Filmtage widmen dem „Zauberberg“ ihre diesjährige Retrospektive, die Thomas Morus-Akademie Bensberg gestaltet gemeinsam mit dem Buddenbrookhaus eine viertägige Zauberberg-Reise. Ein weiterer Höhepunkt ist das „Magische Dinner auf dem Zauberberg“. Wie im Speisesaal des Berghofes treffen die Gäste bei einem Schweizer Menü auf die literarischen Figuren Settembrini und Hofrat Behrens. Wer die facettenreiche Ringvorlesung „Magic Mountain. Visiten der Gegenwart“ – eine Zusammenarbeit von Buddenbrookhaus, Musikhochschule Lübeck und der Universität Lübeck – verpasst hat, kann alle Beiträge im Ausstellungskatalog nachlesen und/oder auf YouTube streamen.
Vermittlungsangebot zu „Thomas Manns Der Zauberberg. Fiebertraum und Höhenrausch“
Ein literarischer Stadtspaziergang mit dem Titel „Davos liegt an der Trave. Auf den Spuren des Zauberbergs durch Lübeck“ weist die überraschenden Querverweise des Jahrhundertromans in der Hansestadt nach. Die Welt des „Flachlandes“, die der Hamburger Hans Castorp hinter sich zu lassen sucht, hat ihre Wurzeln in Lübeck und wurde hier von Thomas Mann biografisch erfahren. „,Der Zauberberg‘ ist ohne Thomas Manns Lübecker Herkunft nicht zu denken“, erklärt Heuer.
In einem digitalen Escape Game begleitet man die Hauptfigur Hans Castorp auf den Berghof. Ziel ist es, das Sanatorium so schnell wie möglich zu verlassen; jedoch wird durch steigende Fieberkurven, erotische Verlockungen und ein Leben fernab jeder Eigenverantwortung eine Abreise verhindert. Das Spiel steht zum kostenfreien Download auf der Website des Buddenbrookhauses bereit.
Für Schüler:innen der Oberstufe werden Workshops von der Literarischen Moderne bis hin zur Analyse politischer Texte angeboten. Für Kinder wurde „Der Zauberberg“ eigens in ein kindgerechtes Märchen umgeschrieben.
Katalog
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, der Texte der beiden Kuratorinnen Dr. Caren Heuer und Dr. Barbara Eschenburg sowie wissenschaftliche Vorträge der Ringvorlesung „Magic Mountain. Visiten der Gegenwart“ versammelt, die den Roman aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen. Zeitgeschichtliche, medizinische, musik- und literaturwissenschaftliche sowie kulturgeschichtliche Perspektiven verbinden sich zu einem umfassenden Kaleidoskop.
Heather Phillipson: Extra time
Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Romans Der Zauberberg von Thomas Mann verwandelt die britische Künstlerin Heather Phillipson die Kunsthalle St. Annen ab dem 13. September 2024 in ein begehbares Kunstwerk. Für ihre Einzelausstellung lässt sie sich maßgeblich vom Motiv der Zeit und des gesellschaftlichen Wandels inspirieren, die im Zauberberg eine zentrale Rolle spielen. Der Roman handelt vom individuellen Erleben der Zeit vor dem Hintergrund epochaler Umbrüche vor dem Ersten Weltkrieg.
In Extra Time wird die ehemalige Kirche des St. Annen-Klosters zum Portal für Träume und Visionen einer alternativen Gegenwart und möglicher Zukünfte. Die Hauptakteure der künstlerischen Inszenierung sind krähenartige Charaktere, die die gesamte Ausstellungsfläche bevölkern. Krähen gelten als eine der intelligentesten Vogelarten. Ihr geheimnisvoller und prophetischer Ruf, hat sie darüber hinaus zum Gegenstand zahlreicher Mythen und Legenden gemacht, oft erscheinen sie als Vorboten und Anstifter großer Umbrüche. In der Ausstellung kommen sie in Massenversammlungen zusammen, schwärmen aus, beobachten, beraten, protestieren und träumen. „Wie der Titel Extra Time, ein aus dem Fußball entlehnter Begriff für die Nachspielzeit am Ende eines Spiels, andeutet, versucht die Ausstellung ein Gefühl von überfließender Zeit zu vermitteln, ein Übermaß an Zeit, eine Zeit außerhalb der vorgesehenen Zeit, in der sie anders vergeht und unser Zeitempfinden herausfordert“, so die Künstlerin.
Die Szenen von Phillipson verweisen zugleich auf die Stadt Lübeck, die neben Manns Roman eine weitere wichtige Referenz für Extra Time darstellt. Wie für ihre Arbeitsweise charakteristisch, ist Heather Phillipson in die Stadt eingetaucht und hat ihre Bilder, Geräusche, Gerüche und Geschichten auf sich wirken lassen. Die Krähen, die vor allem in den frühen Morgenstunden die Stadt und ihre Spiel- und Sportplätze bevölkern, motivierten die Künstlerin dazu, diese geheimnisvolle Stimmung in detailreich komponierte Raumcollagen und surreale Umgebungen zu überführen. Die Besuchenden wandeln in der Kunsthalle St. Annen durch mit Orangen übersäte Fußballfelder, zwischen Protestcamps, Spielplätzen und Himmeln, gleichsam durch vierdimensionale Bilder.
Die Ausstellung, die als Parcours durch die einzelnen Räume führt, hat Heather Phillipson eigens für die Kunsthalle St. Annen entwickelt und nur hier wird sie in ihrer Gesamtheit zu erleben sein. Die Künstlerin bezieht die aufsteigende Architektur des Ausstellungshauses mit ein, die sinnbildlich für den Zauberberg von den Besuchenden über drei Etagen erklommen werden kann.
In ihren raumgreifenden Installationen verbindet Phillipson eine Vielzahl unterschiedlicher Medien – von Video über Collage, Skulptur, Musik, digitale Medien bis hin zu Wandbildern, Zeichnungen und Texten. So gelingt ihr in Extra Time die sinnliche Verbindung ihrer Kunst mit zentralen Motiven aus Thomas Manns Roman und der Dringlichkeit unserer Gegenwart.
Die Ausstellung Extra Time wird begleitet von einem breit angelegten Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm. Auf die Besucher:innen warten unter anderem dialogische Rundgänge sowie Workshops mit Künstler:innen. Ferner können sie sich auf gemeinsame Partys und so beliebte Formate wie das Art Dinner und den St. Annen Talk freuen, die Raum für Begegnung, Musik, Kulinarik und Gespräch bieten.
Heather Phillipson
Heather Phillipson (* 1978, UK) ) ist eine preisgekrönte Künstlerin und Dichterin. 2022 wurde Phillipson für den Turner-Preis nominiert. Zu ihren jüngsten Projekten gehören eine neue Kommissionsarbeit für Art Night 2023 in Zusammenarbeit mit dem Programm Wild Escape des Art Fund und dem BBC-Archiv, eine Kommission der Duveen Galleries der Tate Britain, London (2021-22), Kommission für die Fourth Plinth am Trafalgar Square, London (2020-22) sowie ein großangelegtes Projekt Art on the Underground an der Station Gloucester Road (2018). Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt, unter anderem in den Serpentine Galleries, der Whitechapel Gallery London, dem New Museum New York, dem Palais de Tokyo, der Schirn Frankfurt, auf der Sao Paulo Art Biennale (2016), Athen Biennale (2018) und Sharjah Biennale (2019). Phillipson ist zudem eine renommierte Filmemacherin, erhielt 2016 den Film London Jarman Award und gehörte 2018 zur Auswahl des European Short Film Festival des International Film Festival Rotterdam sowie mehrere Auszeichnungen für ihre Gedichte. 2024 wird Phillipson eine neue Kommissionsarbeit für das Imperial War Museum‘s 14-18 Now Legacy Fund in Zusammenarbeit mit der Glynn Vivian Gallery, Swansea, und einen neuen Dauerauftrag für Hospital Rooms, Vereinigtes Königreich, realisieren.
WANN?
Eröffnung: 13. September 2024
Ausstellungsdaten: 14. September 2024 bis 2. März 2025
Öffnungszeiten: Dienstag – Sonntag: 10:00 – 17:00 Uhr
WO?
Buddenbrookhaus
Mengstraße 4
23552 Lübeck
St. Annen-Museum
St. Annen-Straße 15
23552 Lübeck
KOSTET?
Tageskarte 12 EUR
2 Tageskarte 16 EUR