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Donnerstag, März 20, 2025

Kulturhistoriker Prof. Dr. Bernd Lindner zum 100. Geburtstag des Malers Bernhard Heisig

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Am 24. Januar 2025 hat die Augsburger Galerie Noah unter der Leitung von Wilma Sedelmeier mit der Ausstellung „Bernhard Heisig – 100 Jahre“ das Heisig-Jahr 2025 eröffnet. Gewürdigt wird das Werk des wohl bekanntesten Künstlers der ehemaligen DDR anlässlich seines 100. Geburtstags am 31. März. Bernhard Heisig (1925-2011) ist Mitbegründer der Leipziger Schule und gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten der Kunst in der DDR. Er prägte die deutsche Kunstlandschaft maßgeblich. Sein Werk erstreckt sich über eine beeindruckende Spanne von der Nachkriegszeit bis ins 21. Jahrhundert. Zur feierlichen Eröffnung am 23. Januar 2025 sprach Prof. Dr. Bernd Lindner. Der Leipziger Kulturhistoriker und Kultursoziologe sowie ausgewiesener Kenner der Leipziger Schule betont in seiner Rede die außergewöhnliche Bedeutung von Bernhard Heisig für die deutsche Kunstgeschichte und arbeitet seine facettenreiche Persönlichkeit heraus. Mit prägnanten Beispielen und Zitaten zeichnet Lindner ein vielschichtiges Bild von Bernhard Heisig und seiner inneren Widersprüche. Die Ausführungen lassen die tiefen Zusammenhänge zwischen Heisigs Leben und Werk lebendig werden. Wir veröffentlichen die Rede hier im Wortlaut.

Abb. oben: Prof. Dr. Bernd Lindner, Foto: Christine Starke, Dresden

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Frau Sedelmeier und liebe Frau Winterberg, lieber Herr Walter, liebe Freundinnen und Freunde der Kunst.

In diesem Jahr gilt es mit Bernhard Heisig einen Jahrhundertkünstler zu ehren. Und dies nicht nur, weil der Maler und Grafiker am 31. März 2025 einhundert Jahre alt geworden wäre und er in seiner Biografie wesentliche Brüche und Ereignisse der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert hautnah durchleben musste, sondern auch, weil er die bildende Kunst dieses Zentenniums in Deutschland maßgeblich mit geformt hat.

Geboren am 31. März 1925 in Breslau und nachhaltig geprägt von alptraumhaften Kriegserlebnissen als Soldat im II. Weltkrieg, lebte und arbeitete er seit 1948 in Leipzig und in der DDR – deren 40jährige Existenz er ebenso engagiert wie kritisch mitgestaltete – bevor er am 10. Juni 2011 im wiedervereinigten Deutschland (in Strohdehne im Brandenburger Havelland) verstarb.

So dissonant die gesellschaftliche Entwicklung in seinen 86 Lebensjahren auch war, in seinem künstlerisches Werk hielt Bernhard Heisig unbeirrt an der – und hier zitiere ich ihn selbst – „menschlichen Figur“ als „bezugs- und ausdrucksfähigstes Medium des Malers“ fest. Wie er die menschliche Figur immer aufs Neue gestaltete und sich an ihr – Bild um Bild – abarbeitete, lässt ihn in einer Reihe mit Max Beckmann, Oskar Kokoschka, Otto Dix, Karl Hofer, aber auch Käthe Kollwitz stehen; um nur die wichtigsten Bezugsgrößen seines Werkes in der neueren deutschen Kunst zu nennen. Allesamt Realisten, die als figurative Künstler mit großen gesellschaftlichen Panoramen, ebenso wie mit subtilen Portraits und bildnerischen Gleichnissen, die Kunst des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben.

Bernhard Heisig, Der Alte Fritz, 2009, Öl auf Leinwand, 60 x 80 cm, Foto: 360degrees.art

Das heißt aber nicht, dass Bernhard Heisig allein das realistische Menschenbild in der bildenden Kunst gelten ließ. Im Gegenteil: Er riskierte wiederholt seine künstlerische Existenz in der DDR, weil er gegen die dogmatische Enge politischer Vorgaben in der Kunst – wie sie vor allem die ersten beiden Jahrzehnte dieses Staates dominierten – öffentlich Stellung bezog. So wandte er sich bereits 1964 auf dem V. Kongress des Verbandes Bildender Künstler gegen die Tabuisierung westlicher Kunstströmungen durch die SED-Kulturpolitik: Denn – so Heisig wörtlich – „ängstlich abgeschirmt gegen alle Einflüsse der westlichen Moderne, leidet (der Künstler) an einer Art Begriffsdeformation“, indem er „einerseits die verbotenen und daher besonders reizvollen Früchte überbewertet, andererseits künstlerisch lebensuntüchtig wird und sich in ein ödes Provinzlertum flüchtet.“

„Der Künstler ist auch ein Kritiker seiner Zeit. Wo dies nicht akzeptiert wird, geht der Gesellschaft ein Regulativ verloren.“

Bernhard Heisig

Der Künstler müsse sich – so Heisig weiter – „in eigener Verantwortung“ mit der westlichen Moderne auseinandersetzen können und nicht allein von staatlichen Institutionen zugemessen bekommen, „was geistig für ihn verträglich ist und was nicht.“ Realismus müsse sich an den ganzen Menschen wenden, „seine Freuden, seine Wünsche, seine Sehnsüchte, seine Träume, aber auch seine Tragik und seine Angst, seine Unvollkommenheit, seine Leiden, sein Leben. Leben und Tod sind Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung. Auch hier darf nichts verdrängt werden.“ Denn ein ideelles Konstrukt vom Menschen als „Musterbild sozialistischer Vollkommenheit“ wäre ein „widerliches Gestell“, so Heisig wörtlich. Und er fuhr fort: „Der Künstler ist auch ein Kritiker seiner Zeit. Wo dies nicht akzeptiert wird, geht der Gesellschaft ein Regulativ verloren.“

Solch einen Frontalangriff auf ihre engstirnige Kulturpolitik ließ sich die SED nicht gefallen. Gegen den „Genossen Heisig“ wurde umgehend ein Parteiverfahren eingeleitet, an dessen Ende er – ganz im Stil der Zeit – Selbstkritik üben musste, wie zuvor schon der Hallenser Maler Willi Sitte wegen seines Picasso-haften Malstils. Heisig erhielt eine „strenge Parteirüge“ und musste sein erst 1961 angetretenes Amt als Rektor der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) räumen.

Doch hatte er die drei Jahre zuvor gut genutzt und an der Hochschule, die eigentlich den künstlerischen Nachwuchs für die DDR-Verlage (Typografen, Illustratoren, Fotografiker etc.) ausbilden sollte, zielgerichtet eine Fachklasse für Malerei eingerichtet. Auch wenn Hartwig Ebersbach, Student bei Heisig seit 1959, maßgeblich an der Installation der Malklasse beteiligt war, kann man mit Fug und Recht sagen, dass es ohne Bernhard Heisig die später berühmt gewordene „Leipziger Schule“ – die auch in der Sammlung des Kunstmuseums Walter mit über 45 exzellenten Werken, davon allein 17 von Bernhard Heisig, vertreten ist – in doppelten Sinn des Wortes nicht gegeben hätte:

Erstens weil Heisig die räumlichen und strukturellen Voraussetzungen für die „Leipziger Schule“ geschaffen hat und

Zweitens weil er – neben Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke – eine der drei Gallionsfiguren dieses äußerst heterogenen und vielleicht gerade deshalb so erfolgreichen Gebildes war: Drei Maler „in einer Stadt, in einer Hochschule … als die Eckpunkte eines Kraft- und Arbeitsfeldes“, wie der Publizist Friedrich Dieckmann es beschrieben hat.

Doch erst einmal kündigte Bernhard Heisig 1968 seine Lehrtätigkeit an der HGB, weil er den zunehmenden Dogmatismus an der Schule nicht mehr aushielt und arbeitete lieber freiberuflich.

Als er dann 1976 erneut zum Rektor der HGB berufen wurde, geschah dies auch Dank des großen Erfolges, den sich die „Leipziger Schule“ bis dahin nicht allein in der DDR, sondern auch weit darüber hinaus, erarbeitet hatte.

Zuvor durchlebte er aber Jahre der Furcht und (Selbst-)Zweifel. Er, der bereits 1953 mit der „Aufbahrung der Märzgefallenen“ eine beispiellose malerische Auseinandersetzung mit gescheiterten proletarischen Erhebungen in der europäischen Geschichte der Neuzeit begonnen hatte, sah sich Mitte der 1960er-Jahre angesichts seines ersten Gemäldes zur Pariser Kommune mit massiven Verrissen seitens der SED-gesteuerten Kunstkritik konfrontiert. Die Parteiführung wollte die „heldenhaften Kommune“ von 1871, ihre „Unsterblichkeit trotz Niederlage“, bejubelt wissen. Heisig dagegen würde „das Hauptaugenmerk (allein) auf die tragische Seite der Kommune legen“. Und in der Tat zeigten Heisigs expressiv gemalten Kommune-Bilder vielfache Varianten des Scheiterns: Knäule aus Menschenleibern. Schreiende Münder. Auf den Barrikaden hoffnungslose Gestalten, die um ihren nahen Untergang wissen und sich dennoch den aufgepflanzten Bajonetten der übermächtigen Gegner entgegenwerfen. Alles verzweifelte Bekenntnisse eines Künstlers – der angesichts der Offenlegung der stalinistischen Gräueltaten auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und der blutigen Niederschlagung der Reformbestrebungen in Ungarn im selben Jahr, wie auch des Mauerbaus von 1961 –  um den Bestand seiner marxistischen Weltanschauung rang. (Der zweiten Ideologie seines Lebens, die nach seinem jugendlichen Bekenntnis zum Nationalsozialismus, das ihn bis in die Waffen-SS geführt hatte, zu scheitern drohte).

Aus Furcht vor möglichen Konsequenzen zerstörte oder übermalte Bernhard Heisig zwischen 1964 und 1967 alle frühen Fassungen seiner Kommune-Bilder. Erst ein, mit vielen Kompromissen behaftetes vierteiliges Gemälde zum gleichen Thema (entstanden 1970/71) wurde auf der VII. Kunstausstellung der DDR 1972/73 in Dresden von der Kunstkritik groß gefeiert. Für den Künstler selbst aber stellte es „ein Kompendium von künstlerischen Unentschiedenheiten“ dar, das er später gern „kaputt gemacht“ hätte. Doch gehörte es da längst zum Bestand des Leipziger Bildermuseums.

Heisig aber blieb weiterhin ein Maler großer Geschichtspanoramen, in denen er Figuren aus vielen Jahrhunderten – mit dem Pinsel collagierend – zu unseren Zeitgenossen machte, sie aber auch aufs Engste mit seiner eigenen Person und Biografie verband, wie in „Festung Breslau“ (1972-78) „Preußischer Soldatentanz“ (1978-86), „Als ich die Völkerschlacht malen wollte…“ (1984) oder „Fritz und Friedrich“ (1986-88). Dabei scheute er auch nicht davor zurück, dem Gekreuzigten in dem Gemälde  „Christus verweigert den Gehorsam“ (1986/87) sein Antlitz zu geben.

Schon die Jahreszahlen zur Entstehung dieser Bilder verraten, dass Heisig oft lange brauchte, um sie als „fertig“ zu betrachten. Mitunter malte er – zum Entsetzen von Kuratoren und Galeristen – oft noch an, bereits in Ausstellungen hängenden Bildern weiter. Auch variierte er seine Themen immer wieder und griff sie in anderen Bild-Zusammenhängen erneut auf. So wurde aus dem „Ikarus“ (1975/76 gemalt für die Galerie im Palast der Republik) zwei Jahre später, nach der Ausweisung von Wolf Biermann aus der DDR, ein „Sterbender Ikarus“.

Auch Sie können in der heute zu eröffnenden Ausstellung dieses rastlose, über Jahrzehnte andauernde Arbeiten an seinen Bildstoffen nachvollziehen. Zum Beispiel an dem gasmaskenhaften Portrait des „Alten Fritz“ (von 2009), in dem Bernhard Heisig den Preußenkönig in die Schützengräben des I. Weltkriegs verpflanzt. Oder die Bilder „Trompetentanz“ und „Der schwarze Geiger“ (beide von 2008), die das apokalyptische Geschehen auf Heisigs frühen Kommune-Bildern oder dem Gemälde „Die erste Bürgerpflicht“ (von 1977) ausschnitthaft aufgreifen und stilistisch weiter vorantreiben.

ART-COMPASS -Bernhard Heisig - Berchtesgadener 6 - Der Trompetentanz
Bernhard Heisig, 2008, Trompetentanz, Öl auf Leinwand, 100 x 120 cm, Foto: 360degrees.art

Ebenso wie Bernhard Heisig ein Leben lang der Mythos vom Turmbau zu Babel beschäftigte. „Neues vom Turmbau“ (von 1977) ist sein bekanntestes Bild dazu. Die Geschichte aus dem Alten Testament kündet von der babylonischen Sprachverwirrung, die Gott über die größenwahnsinnig gewordenen Baumeister des Turmes hereinbrechen lies, als sie diesen bis in den Himmel wachsen lassen wollten. Heisig nutzte die Geschichte „als Zivilisationsmetapher, als Zeichen für das himmelstürmende Streben und die Selbstermächtigung der Menschheit“, wie der Erfurter Kunsthistoriker Kai-Uwe Schierz betonte. Wohl deshalb auch lässt er auf dem Gemälde vor der Kulisse des unvollendeten Turmes eine Ikarus-gleiche, schwarz gewandete Figur (zusammen mit einem Doppeldecker-Flugzeug) abstürzen.

Neues vom Turmbau zu Babel“ ist auch der Titel eines, hier in dieser Ausstellung gezeigten Bildes. Entstanden ist es in Heisigs Todesjahr 2011. Es ist also eines seiner letzten Bilder, die er uns hinterlassen hat. Auch auf ihm bildet der unvollendete Turm zu Babel die Hintergrundkulisse. Dominiert wird es jedoch von der großen gesichtslosen Figur eines Gekreuzigten, dessen Körperhaltung aber eher an eine ausgestopfte Vogelscheuche, als an Jesus Christus denken lässt. Gekleidet in einen schwarzen Frack und einer knallroten Hosen, scheint sie im Raum zu schweben (denn ein Kreuz selbst ist nicht zu sehen). Offen bleibt auch: Steigt die barfüßige Männerfigur gen Himmel auf oder sinkt sie zu Boden? Auf jeden Fall wirkt sie ermattet und kraftlos: Abgesang eines Malers in ehemals (Staats-)tragender Funktion?

Als „Staatskünstler“ wurde der zuvor im Westen einhellig gefeierte Bernhard Heisig (von dem sich sogar der ehemalige Bundeskanzler und Expressionismus-Liebhaber Helmut Schmidt 1986 für die Galerie im Bundeskanzleramt porträtieren lies) schon bald nach dem Mauerfall diffamiert. Gerade erst war am 30. September 1989 in West-Berlin eine (im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturabkommens) lang geplante Heisig-Ausstellung mit über 400 Werken eröffnet worden, da drehte sich die Bewertung seines Werks ins Gegenteil: Auftakt des über ein Jahrzehnt andauernden deutsch-deutschen Bilderstreits. Der eskalierte 1997 noch einmal, als der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages Bernhard Heisig beauftragte, für den umgebauten Reichstag ein Bild zu malen. Heisig gab seinem großformatigen (rund sechs Meter langen und anderthalb Meter hohen) Fries zur deutschen Geschichte den Titel „Zeit und Leben“. Das Gemälde wimmelt von Bildzitaten aus der Kunst- und Zeitgeschichte, vor allem aber aus Heisigs Bildwelt selbst. Auch der Gekreuzigte im schwarzen Gewand findet sich dort als eine dominante Figur wieder. Hier in Rückenansicht, eingeklemmt in ein gefängnishaftes Gitterfenster. (In manchen Interpretationen wird er als osteuropäischer Jude im Kaftan gedeutet). Auf im Bild gezeigten Spruchbändern tritt mehrfach das Wort „Pflicht“ (als preußische Kerntugend) hervor. Auf einem anderen, nur bruchstückhaft zu lesenden Transparent steht: „…du stirbst für dich, deine Leistung wird dir gestrichen…“.

Schwarz-rot ist das Gewand des Gekreuzigten von „Neues vom Turmbau zu Babel“. Es fehlt nur das Gold und die Farbenfolge der deutschen Nationalfahne wäre vollständig. So wie es bei den, Ende 1989 in Heisigs Bildwelt neu hinzugekommenen „Fensteröffnern“ der Fall ist. Bis 2003 hat er mindestens acht solche Fensterbilder gemalt, die Männer zeigen, die jubelnd ein Fenster aufstoßen. Gekleidet sind sie in goldgelben Westovern mit rotschwarzen Biesen. National gestimmte Kleinbürger mit vor Stolz geschwellter Brust, obwohl sie ihre Köpfe erst aus dem Fenster zu stecken wagten, als die staatlichen Sicherheitsorgane längst vor den Demonstranten auf den Straßen von Leipzig und anderswo kapituliert hatten und die Mauer gefallen war. Heisig machte aus seinem Ekel an diesem erneuten Mitläufertum keinen Hehl. Das wurde auch am Panoptikum seiner Landsleute sichtbar, das er 1990/91 in „Menschen am Fenster und Blaues Schiff“ entfaltete. Überschwänglich begrüßen sie darauf das, an das Sehnsuchtsmotiv der Blauen Blume der Romantiker erinnernde, fluoreszierende Luft-Schiff, das sie zu erhaschen suchen, während es unerreichbar an ihnen vorbeischwebt. Während die „Seeräuber-Jenny“, im gleichnamigen Lied aus Brechts Dreigroschenoper, längst um deren vergeblichen Hoffnungen weiß, denn „Sie wissen immer noch nicht, wer ich bin.“

Bernhard Heisig, Seeräuber-Jenny, 1992, Öl auf Leinwand, 50 x 60 cm, Foto: 360degrees.art

Auch Heisigs „Fensteröffner“ von 2008, den Sie in dieser Ausstellung (neben einer Federzeichnung zum gleichen Motiv) sehen können, ist noch blau illuminiert vom Widerschein des Traumschiffes, das längst am Horizont entschwunden ist.

Neben dem Maler großer gesellschaftlicher Themen können Sie Bernhard Heisig hier in der Galerie Noah aber auch als Porträtisten bedeutender historischer Künstlerpersönlichkeiten erleben: Vom Leipziger Über-Musiker Johann Sebastian Bach bis zum Dichterfürsten Theodor Fontane aus der Mark Brandenburg, in der Heisig sein Altersdomizil gefunden hatte.      

„Es ist nicht erlaubt zu übersehen, dass viel Unrecht geschah. Man hätte es wissen müssen und nichts verdrängen dürfen und letzteres mache ich auch mir zum Vorwurf.“

Bernhard Heisig

Zweimal erscheint auf den Bildern hier auch sein Hallenser Malerkollege und langjähriger Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR, Willi Sitte, dem Bernhard Heisig von 1974 bis 1988 als Vizepräsident zur Seite stand. Als Maler zwei ‚Alphatiere‘ – war deren Verhältnis zueinander oft nicht spannungsfrei. Ebenso unterschied sich ihre Sicht auf die DDR nach deren Ende: Während Sitte seinen kommunistischen Ideen nie abschwor und bis zu seinem Tod (zwei Jahre nach Heisig) überzeugt war, nichts falsch gemacht zu haben, sich aber von den Arbeitern im einstigen Arbeiter- und Bauernstaat verraten fühlte, trat Heisig im Herbst 1989 aus der SED aus und gab seine beiden Nationalpreise der DDR (die er 1972 und 1978 verliehen bekommen hatte) zurück und richtete mit den Preisgeldern eine Stiftung für Studenten der Bildenden Kunst ein. In seinem Nachlass fand sich eine handschriftliche Notiz (ohne Datum): „Es ist nicht erlaubt zu übersehen, dass viel Unrecht geschah. Man hätte es wissen müssen und nichts verdrängen dürfen und letzteres mache ich auch mir zum Vorwurf.“

Das erste Sitte-Portrait finden Sie auf dem Ölbild „Heinrich Mann – Der Untertan“ von 2005. Darauf sind zwei Portraits zu sehen: Links lugt ein schon fast kahlköpfiger Mann mit einem Pinsel in der Hand hinter einem goldenen Bilderrahmen hervor. Sein heiteres Konterfei ähnelt sehr dem von Willi Sitte. Er blickt spitzbübisch auf das zweite Gesicht, das sich auf einem Gemälde findet. Es ist rechts in Heisigs Bild im Anschnitt zu sehen. Auf Augenhöhe mit dem Sitte-Portrait blickt uns von dort ein Uniformierter im preußischen Soldatenrock an. Doch ähnelt er mehr dem Hauptmann von Köpenick, als dem opportunistischen Kleinbürger Diederich Hessling, der Hauptfigur in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“. Ein Buch, das Bernhard Heisig sehr gut kannte, hat er es doch 1992 für die Büchergilde Gutenberg illustriert. Zufall also ausgeschlossen. Eher haben wir es mit einem synonymen Doppelportrait des Künstlers und treuen ‚Parteisoldaten‘ Willi Sitte zu tun.

Bernhard Heisig, Heinrich Mann – Der Untertan, Öl auf Leinwand, 50 x 60 cm, Foto: 360degrees.art

Fünf Jahre später porträtierte Heisig Willi Sitte in dem Bild „Der Maler II“ erneut. Nun ist der Spott dem Mitleid gewichen. Zu sehen ist ein kraftlos wirkender, ergrauter alter Mann, den die Malunterlage auf seiner Staffelei mehr stützt, als dass er sie mit beiden Händen hält. Im Hintergrund ist ein Gemälde mit dem Portrait eines kahlköpfigen Mannes, in blau-weiß-gestreifter Häftlingskleidung zu sehen. Streifen, die sich auf dem grün-weiß-gestreiften Kragen des Malers nahtlos fortsetzen. Ob es sich bei dem Bild im Bild um ein Gemälde Sittes handelt, konnte nicht ermittelt werden.

Das Bild im Bild-Prinzip praktizierte Bernhard Heisig häufig. Hier zu sehen in dem Gemälde „Die Sammlerin Frau Köster und die Malerin Antoinette“ von 2003. Beide Frauen stehen vor Heisigs Gemälde „Das Endspiel“, das Sie ebenfalls hier in der Ausstellung sehen können. Antoinette war in den 1990er-Jahren Meisterschülerin Heisigs und zeitweise mit dessen Sohn, dem Maler Johannes Heisig, verheiratet. Im Vordergrund aber hat sich der Maler selbst porträtiert.

Wie er sich selbst oft gemalt hat. Und so finden Sie sein Portrait auch mehrfach in dieser Ausstellung: Symbolisch aufgeladen im Bild „Selbst mit Mephisto“ von 2009/10 aber auch im „Selbstbildnis“, aus dem gleichen Jahr, als alten Mann mit schlohweißem Haar.

ART COMPASS - Bernhard Heisig - Selbstbildnis - copyright by artatberlin.com
Bernhard Heisig, Selbstbildnis, Öl auf Leinwand, 50 x 60 cm, Foto: 360degrees.art

Wiederholt können Sie den Künstler aber auch auf den Bildern seiner langjährigen Lebensgefährtin und Ehefrau Gudrun Brüne begegnen, die parallel zu dieser Ausstellung im Studio der Galerie Noah zu sehen sind. Die Malerin hat sich – auch nach dem Tod Bernhard Heisigs – immer wieder in Doppel- und Einzelportraits mit ihm und ihrer Beziehung künstlerisch auseinandergesetzt; hierbei auch das Bild im Bild-Prinzip Bernhard Heisigs aufgreifend. Und so können Sie im Bildhintergrund von Brünes Doppelportrait „Wir gegenseitig“ von 2016, sogar das “Portrait Gudrun“ ihres Mannes sehen, das sie im Original auch in seiner Werkschau betrachten können.

ART COMPASS - CSR.ART - Gudrun Bruene - Wir - Gegenseitig 2016
Gudrun Brüne, Wir – gegenseitig, 2016, Mischtechnik auf Hartfaser, 100 x 120 cm, Foto: 360degrees.art

So schließt sich der Kreis der Bilder in dieser sehenswerten Doppelausstellung, die ich Ihnen in meiner Eröffnungsrede nahebringen wollte, ohne auf alle Bilder einzeln eingehen zu können.

Aber vielleicht ergibt sich anschließend dazu noch die Gelegenheit im Gespräch.

Ich habe zu Beginn meiner Rede gesagt, dass es in diesem Jahr gilt, mit Bernhard Heisig einen Jahrhundertkünstler zu ehren. Schön, dass Sie damit hier in Augsburg – in der Galerie Noah, die sich dem Werk des Künstlers seit langen verpflichtet fühlt – beginnen!   

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

Text: Prof. Dr. Bernd Lindner

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