Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt im K21 die erste monografische Museumsausstellung des Schauspielers und Künstlers Lars Eidinger (*1976). Die Ausstellung „O Mensch“ präsentiert seit dem 31. August 2024 eine Auswahl von Fotografien und Videos, die zwischen 2018 und 2024 entstanden sind (einige wenige Ausnahmen gehen bis 2006 zurück). Die zumeist unterwegs mit dem Smartphone oder der Spiegelreflexkamera aufgenommenen Bilder vermitteln den Blick des vielreisenden Achauspielers auf die Welt. Ob an Gastspiel- oder Drehorten wie London, Paris, Peking, Tokio, Sydney, Seoul, New York oder in seiner Heimatstadt Berlin – Eidinger lenkt den Blick auf abseitige, unscheinbare Details und vergrößert sie. Vermeintlich nebensächliche Situationen werden so zärtlich wie schonungslos in all ihren Widersprüchen festgehalten.
Abb oben: Lars Eidinger, Montreux, 2019, C-Print, © Courtesy Lars Eidinger und Ruttkowski; 68, Köln, Düsseldorf, Paris, New York
Die in enger Absprache mit Lars Eidinger realisierte Ausstellung ist ein Kaleidoskop der Gegenwart. Aus der Menge der Bilder kristallisiert sich als Thema der Alltag in den weltweit von Glücksversprechen und Tristesse geprägten Innenstädten heraus. Die Fotos zeigen skurrile Bausünden, absurde Wegeführungen und oft sinnlose, menschenfeindlich gestaltete Stadtmöblierungen. Bäume und Büsche sind von Zäunen, Geländern und Bordsteinen eingezwängt. „O Mensch“ – Der Ausstellungstitel ruft mit einem berühmten Gedicht von Friedrich Nietzsche die existentielle Dimension der Fotografien und Videos auf. Aus dem Unterlaufen von Pathosbehauptungen durch lakonische Beiläufigkeit bezieht Eidingers Kunst in der Fotografie wie im Schauspiel ihren entwaffnenden und oft zersetzenden Witz. Im Mittelpunkt der „Symbolbilder einer erschöpften Zeit“ – so hat Simon Strauß Lars Eidingers Fotografien 2019 bezeichnet – steht der Mensch. Auf vielen Fotos und Videos sind Personen zu sehen, meist vereinzelt, von hinten oder von der Seite, im ‚verlorenen Profil‘. Die Aufnahmen sind weder inszeniert noch autorisiert.
Domestizierung der Natur, Obdachlosigkeit und Armut in Städten sind als Sujets unübersehbar; oft schildern die Fotos Menschen bei der Ausübung von eher prekären Jobs. Zum Beispiel der Mann im Mickey Mouse-Kostüm (Montreux, 2019, Video), der sich in der Abendsonne am Ufer des Genfer Sees ausruht (Montreux, 2019, C-Print).
Oder der mit Plakaten von Sonderangeboten gespickte menschliche Werbeträger auf einer Verkehrsinsel (Cleveland, 2021, Video). Der mit schwarzer Kapuze vermummte Mann, der auf einem Einkaufswagen sitzt und einen Baumstamm von Reißzwecken befreit (Berkeley, 2018, C-Print). Die Blumenverkäuferin im geblümten Rock, die optisch nahezu in ihrem floralen Sortiment aufgeht (Berlin, 2018, C-Print). Eidingers radikal beschreibende Haltung erfolgt aus Distanz und Empathie zugleich. Gezeigt wird die Welt, wie sie ist.
Etliche Videos beruhen auf Beobachtungen von Verkaufs- oder Werbe-Performances im öffentlichen Raum. Unbehaust und wie aus der Welt gefallen, erinnern die Figuren an Darstellende, die Schauplätze erscheinen als Bühnen.
Am Rande eines Platzes vor dem Justizministerium steht eine Frau (Paris,2021, Video), ein Mann beobachtet den Verkehr auf der Berliner Stadtautobahn Avus (Berlin, 2015, Video), vor dem Zirkus Knie präsentiert sich einer im Transformerkostüm als Menschmaschine (Genf, 2015, Video). Die Videos sind jeweils in einer Einstellung ohne Schwenk und ohne Stativ gedreht. Es sind fünf- bis zehnminütige Plansequenzen, die Eidingers ausgeprägten Sinn für das Verhältnis von Figur und Raum belegen. Schnitt und Nachbearbeitung entfallen. Der Instant-Charakter und die Unmittelbarkeit der Videokamera prägten die Anfänge der Video- und Performancekunst. Sie kommen bei Eidinger erneut zum Tragen. Die enorme digitale Beschleunigung erlaubt jedoch einen ungleich schnelleren direkten Weg von der Aufnahme zur Präsentation.
Lars Eidinger hat seine Fotos zunächst auf seinem Instagram Kanal veröffentlicht, den er Anfang 2022 mit fundierter Kritik an den vermeintlich sozialen Medien programmatisch gelöscht hat. Bereits für die erste Ausstellung seiner Fotografien im Neuen Aachener Kunstverein 2019 hatte er bei der Übertragung der Fotos von Social Media in den tradierten White Cube einen konzeptionellen Ansatz verfolgt, der sich bis heute stringent weiterentwickelt hat. Weitgehend vermieden werden subjektive Kriterien bei Produktion und Präsentation, ebenso verzichtet Eidinger auf ästhetisierende Kniffe und Tricks beim Fotografieren. Kein Blick durch den Sucher korrigiert stürzende Linien, Fokus und Brennweite werden vom Algorithmus der digitalen Handy-Kamera bestimmt.
Mit ausgestrecktem Arm sich die Bilder der Welt vor Augen halten – auf die Parallele zu
Hamlets Blick auf den Totenschädel hat Eidinger selbst hingewiesen.
Auch das Editieren, die Ausgabe und Bearbeitung der Formate und die Hängung der Fotos in strikt chronologischen Reihen folgen eher den Regeln von Datenbanken als inhaltlichen Zusammenhängen oder subjektivem Gestaltungswillen. Formate, Rahmen, Technik, Material, alles ist in seiner Sachlichkeit offen und entblößt, damit die Bilder ihre Wirkung entfalten. Vielfach ist es ein Blick hinter die Kulisse der Illusion. Selbst die Titel bezeichnen lediglich den Ort, wie etwa „Paris, 2021“, an dem das Foto gemacht wurde.
Die Ausstellung im K21 zeigt etwa 100 Fotografien, 12 Videos und einen frühen Super8-Film von Lars Eidinger. Hinzu kommen einige skulpturale Fundstücke (objets trouvés). Im mittleren Ausstellungsraum wird ein so genannter Skydancer, ein Werbe-Objekt für den Außenraum mit von Luft gefüllten, röhrenartigen Gliedmaßen menschliche Bewegung slapstickhaft karikieren. In den beiden angrenzenden Ausstellungsräumen der Bel Etage ergänzt eine eigens für die Ausstellung realisierte Textebene die ausgestellten Arbeiten. Es sind kurze Gedichte in der Form japanischer Haiku der vielfach ausgezeichneten, in Berlin lebenden japanischen Dichterin Yoko Tawada (*1960). Sie hat für Eidingers FotoPublikation „O Mensch“ (2023, Berlin, Hatje Cantz Verlag) zu etwa 90 Fotos Haiku in deutscher Sprache verfasst. In der Ausstellung ist eine Auswahl von Haiku zu sehen, die handschriftlich von der Dichterin selbst neben die Fotos auf die Wände geschrieben wurden.
Wie sich Text und Bild in ihrer Offenheit, Pointiertheit und Simplizität gegenseitig verstärken, zeigt etwa das Haiku, das zu dem Foto der Mickey Mouse in Montreux entstanden ist:
„Abendlicher Strand / Bärenarbeit ist getan / Wer bin ich als Mensch?“
Lars Eidinger wurde 1976 in Berlin geboren und ist einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler seiner Generation. Seit Beendigung des Schauspielstudiums an der HfS Ernst Busch 1999 ist er Mitglied im Ensemble der Berliner Schaubühne. Neben zahlreichen nationalen und internationalen Film- und Fernsehproduktionen ist er auch als DJ und bildender Künstler tätig. Ausstellungen u.a. im Neuen Aachener Kunstverein (2019), Hamburger Kunsthalle (2021, Klasse Gesellschaft), Stadtgalerie Klagenfurt (2023).
Publikationen: Lars Eidinger, Autistic Disco. Berlin 2019 (Hatje Cantz Verlag). Mit einem
Essay von Simon Strauß (dt./engl); Lars Eidinger, O Mensch. Berlin 2023 (Hatje Cantz
Verlag). Mit Gedichten von Yoko Tawada (dt./engl)
WANN?
Sparda-Tag anlässlich der Ausstellung Lars Eidinger. O Mensch
Sonntag, 6.10.2024, K21, 11 – 18 Uhr
Ausstellungsführungen
sonntags / 16 – 17 Uhr
Entgelt: 3 €, Anmeldung erforderlich
sowie an den KPMG-Kunstabenden
Eintritt frei, Anmeldung vor Ort
Gallery Talk in English
Ausstellungsführung in englischer Sprache
Mittwoch / 6.11. / 19 – 20 Uhr
Eintritt frei im Rahmen des KPMG-Kunstabends, Anmeldung vor Ort
Familienführungen
Kunst erleben in Ausstellung und Museumswerkstatt
19.10. Total normal
16.11. Die Kunst des Schnappschusses
21.12. Held*innen der Straße
Jeden 3. Samstag im Monat / 15 – 16.30 Uhr
Eintritt frei, Anmeldung erforderlich
Ausstellungszeitraum: Samstag, 31.08.2024 – Sontag, 26.01.2025
WO?
K21
Ständehausstraße 1
40217 Düsseldorf