Für den deutschen Beitrag zur 60. Internationalen Kunstausstellung – La Biennale di Venezia mit dem Titel „Stranieri Ovunque – Fremde überall“ hat die Kuratorin Çağla Ilk die Künstler Michael Akstaller, Yael Bartana, Robert Lippok, Ersan Mondtag, Nicole L’Huillier und Jan St. Werner eingeladen, sich unter dem Titel Thresholds am Rande, an der Abstufung, an der Grenze zu bewegen. Ausgehend von alternativen Lesarten der Geschichte und der Zukunft, extrapoliert der Beitrag Erfahrungsbereiche aus dem Grenzbereich.
Abb. oben: Deutscher Pavillon / German Pavilion, 60. Internationale Kunstausstellung / 60th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Ersan Mondtag: Monument eines, unbekannten Menschen (Monument Of An Unknown Man), 2024, Performanceansicht / Performance View, Foto / Photo: Thomas Aurin
Erstmals und für die Dauer der Ausstellung erstreckt sich die Präsentation des Deutschen Pavillons über die Grenzen der Giardini della Biennale hinaus auf einen weiteren Ort: die Nachbarinsel La Certosa. Yael Bartana und Ersan Mondtag präsentieren ihre Arbeiten im Pavillongebäude. Auf La Certosa wird die Idee der Schwelle in Beiträgen von Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner erweitert.
Thresholds sind Grenzräume, die einer paradoxen Zwischenordnung unterliegen. Sie führen von einem Ort zum nächsten und sind sowohl räumliche als auch zeitliche Verbindungsglieder. Die für die Präsentation gewählte kuratorische Methode besteht darin, verschiedene künstlerische Ansätze und Disziplinen im Rahmen einer pluralistischen Gesamterzählung zu verbinden. Ausgehend von der Gegenwart als Schwelle, als Übergang, wo sich Vergangenheit und Zukunft überschneiden, beschäftigen sich die künstlerischen Beiträge sowohl mit der Schwelle als Ort zwischen verschiedenen Arten der Zugehörigkeit als auch mit den Gemeinschaften, die diesen Bedeutungsraum prägen. Das Konzept ist inspiriert durch das Denken von Georgi Gospodinov und Louis Chude-Sokei, die den deutschen Beitrag als Chronisten in einem aktiven Austausch begleiten.
Die künstlerische Arbeit
Der faschistischen Architektur des Pavillons mit ihrem Anspruch auf ewige Gültigkeit setzt Ersan Mondtag ein Monument eines unbekannten Menschen entgegen. Im konzeptionellen Zentrum steht die Frage nach dem kollektiven Gedächtnis. Ein zentrales Motiv des Monuments ist die Erde, die Mondtag als umkämpftes Objekt territorialer Konflikte, als Lebensraum der Toten und Geister, symbolisch von Anatolien in den Deutschen Pavillon überträgt. Inmitten einer archäologisch anmutenden Landschaft erwecken Mondtag und fünf Performer biografische Fragmente zum Leben: Arbeitsplatz, Fabrik, Wohnräume, öffentlicher Raum.

Sein Bezugspunkt ist das Leben seines Großvaters Hasan Aygün, der in den 1960er Jahren aus Zentralanatolien nach West-Berlin kam, seinen Lebensunterhalt mit der Arbeit in den Eternit-Asbestfabriken verdiente und an den Folgen dieser Arbeit starb. Auf einem Parkettboden, der aus einem verlassenen Brandenburger Kulturzentrum nach Venedig verlegt wurde, kreuzt Mondtag die postmigrantische Geschichte mit vergessenen Biografien der Arbeitsgesellschaft der DDR. Indem er Motive aus migrantischen und ostdeutschen Biografien in den Mittelpunkt des Pavillons stellt, wirft Mondtag Fragen nach postheroischer Geschichtsschreibung, Repräsentation und Erzählung an der Schwelle zu einer postindustriellen Landschaft auf.
Mit ihrem aktuellen Werk „Light to the Nations“ nähert sich Yael Bartana einer Schwelle in Zeit und Raum: der gegenwärtigen Realität des Planeten Erde, der am Rande der ökologischen und politischen Zerstörung steht. In einem Akt der Erlösung trägt ein von der Künstlerin erdachtes und nach einer Passage aus dem Buch Jesaja benanntes Raumschiff mehrere Generationen von Menschen zu unbekannten Galaxien. Es ist eine große Reise mit offenem Ende, die der kollektiven Heilung dient und gleichermaßen utopische und dystopische Elemente enthält. Mit dieser Installation, zu der auch eine neu choreografierte Videoarbeit mit dem Titel Farewell gehört, erweitert Bartana ihr über Jahrzehnte entwickeltes Werk, in dem sie Gruppenzeremonien und die sie umgebenden sozialen Bewegungen erforscht und neu interpretiert.

Indem er spekulative Technologien mit der jüdischen mystischen Lehre, der Kabbala, überlagert, nutzt Bartana das Schiff als Vehikel der Erlösung. Ohne die Anwesenheit von Menschen, die es zerstören, kann sich die Erde erholen, und ohne die Beschränkungen des Landes können auf dem Schiff neue Gesellschaftsformen entwickelt werden. „Light to the Nations“ basiert zwar auf jüdischen Traditionen, aber das große Vorhaben geht über religiöse, ethnische, nationale, staatliche und Stammesgrenzen hinaus. Es bietet der gesamten Menschheit eine Zukunft und trotzt der Anziehungskraft des Planeten und dem menschlichen Streben nach Zugehörigkeit. Mit ihrer Methode des Pre-Enactment versetzt Yael Bartana „Light to the Nations“ sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft und lässt die Besucher des deutschen Pavillons in der Schwebe vergessener Hoffnungen.
Michael Akstaller, Nicole L’Huillier, Robert Lippok und Jan St. Werner schlagen in ihrer figurativen Brücke vom monumentalen und historisch belasteten Deutschen Pavillon zur Insel La Certosa eine kühne Umkehrung traditioneller Erzählformen. Eine Insel mit fließenden Grenzen wird zu einem Ort, an dem über Grenzen nachgedacht wird. Die Beiträge der hier arbeitenden Künstler konfrontieren uns mit der Gegenwart und der uns umgebenden Natur und eröffnen Erfahrungswelten des Klangs. Die Vision einer gemeinsamen Zukunft beginnt dort, wo wir lernen, auf unsere zerbrechliche und verletzte Umwelt, auf uns selbst und auf einander zu hören. In dieser Hinsicht erzeugt das Weggehen vom Pavillon eine Resonanz, die von La Certosa zurückfließt, und so wird der Schritt nach außen gleichzeitig ein Schritt nach innen. La Certosa ist sowohl für alle Besucher als auch für die Venezianer jederzeit öffentlich zugänglich.
Als eine Art Vorspiel zum deutschen Beitrag auf La Certosa begleitet die Stimme von Louis Chude-Sokei die Besucher bei ihrer Ankunft auf der Insel. Seine klangliche Intervention Thresholds ist beim Überschreiten der Schwelle zwischen Steg und Land zu hören.

In „Scattered by the Trees“ untersucht Michael Akstaller, wie sich Klang in bestimmten Ökosystemen ausbreitet und wie Bäume und Wälder die Parameter unserer Wahrnehmung von Klang bestimmen. Akstallers Klanginstallation arbeitet mit dem natürlichen System auf La Certosa, ohne es zu imitieren.
Mehrdeutigkeit, Zugehörigkeit und Codes sind grundlegend für die Arbeit von Nicole L’Huillier. Für ihre Installation Encuentros (Begegnungen) entwickelte sie ein Transceiver-System, das die Geräusche der Insel in verschiedene Frequenzen übersetzt und künstliche und natürliche Klänge zu einem akustischen Raum vermischt. Ihre klangsensiblen Membranen bevölkern die Insel und kommunizieren mit der Umgebung von La Certosa. In ihrer Empfangsfunktion reagieren sie auf die Klänge in ihrer Nähe und aktivieren ein Klangsystem, das auf der wechselseitigen Beziehung von Senden und Empfangen beruht. Dieser Austausch von natürlich und elektronisch erzeugten Klängen führt zu einer Verwischung der Grenzen.
Robert Lippok vergräbt in seinem Feld zahlreiche Subwoofer im Boden von La Certosa. In Dreieckskonstellationen angeordnet, spielt seine Klanglandschaft mit der Wahrnehmung der Zuhörer, indem sie den Boden unter ihren Füßen wie ein Fenster zur Vergangenheit der Insel öffnet. Das Werk verstärkt die unter dem Gras verborgenen Schichten. Lippok markiert ein bebendes Feld von Übergängen durch eine klangliche Schwelle.
Für „Volumes Inverted“ entwickelte Jan St. Werner ein Lautsprecherinstrument speziell für die Klosterruine auf La Certosa. Im Dialog mit einem weiteren Lautsprecher, der einen Klangstrahl von der Lagune über mehrere hundert Meter zurück auf die Insel bündelt, entstehen zwei ineinandergreifende Klanginstallationen: die eine aktiviert das Innere des Klosters, die andere verteilt den Klang über die Insel. Diese Dualität stellt die eigene Verortung in Frage und regt zu einem Austausch zwischen der Insel und der umgebenden Lagune an.
WANN?
Ausstellungsdaten: Samstag, 20. April bis Sonntag, 24. November 2024
Öffnungszeiten:
Samstag 20 April bis Montag 30. September 2024, 11-19 Uhr
Dienstag, 1. Oktober bis Sonntag, 24. November 2024, 10-18 Uhr
WO?
Giardini della Biennale
30010 Venedig VE
Italien
KOSTET?
Normalpreis: 8,50 Euro