Das Architekturmuseum der TUM der Pinakothek der Moderne zeigt ab 10. Oktober 2024 die Ausstellung „Visual Investigations“ zum Thema Menschenrechtsverletzungen und dem Aufdecken von Gewalt und Unrecht durch bildbasierte Ermittlungsverfahren.
Abb. oben: © SITU Research, 2023
SITU Research produzierte eine Reihe von Videoanalysen und Karten für die Sammelklage Sow, et al. v. City of New York, et al., die das Fehlverhalten des New York Police Department (NYPD) während diversen Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung 2020 dokumentieren. Die Verstöße gegen eine Vielzahl von konstitutionellen Rechten wie Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit wurden auf Video festgehalten; Handyaufnahmen von Demonstrantinnen, Körperkameras von Polizeibeamtinnen, Luftüberwachungsbilder und CCTV-Aufzeichnungen dienten der Recherche als Basis.
Menschenrechtsverletzungen sind im öffentlichen Diskurs demokratischer Staaten so präsent wie nie zuvor. Das liegt nicht zuletzt an der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Bildquellen: Smartphones, Satelliten, Überwachungs- und Polizeikameras produzieren gigantische Mengen an Datenmaterial, das gewalttätige und repressive Vorfälle sowie andauernde Rechtsverstöße festhält. Bei der Verarbeitung und Kontextualisierung solcher Datenströme sind Nachrichtenredaktionen, Staatsanwaltschaften und Menschenrechtsorganisationen zunehmend herausgefordert, diese bei Berichterstattungen und Rechtsverfahren wirksam nutzen zu können.
Für eine umfassende Darstellung und Analyse kontroverser Sachverhalte haben sich die „Visual Investigations“ – bildbasierte Ermittlungsverfahren – als neue Disziplin etabliert. Dabei werden Video- und Bildinhalte mit Menschen, Orten und Geschehnissen verknüpft. Architektinnen arbeiten mit interdisziplinären Teams aus Filmemacherinnen, Informatikerinnen und weiteren Expertinnen daran, Verbrechen zeitlich und räumlich einzuordnen. Das Ziel dabei bleibt stets, Fakten und Zusammenhänge sachlich, transparent, objektiv und möglichst unabhängig darzustellen. Angesichts des globalen Wettstreits um die Deutungshoheit über politisch umstrittene Ereignisse sowie der zunehmenden Bedrohung von Wahrheitsfindung und Aufklärung durch gezielte Fehlinformation entwickeln sich Visual Investigations aktuell rasant weiter.
Die Pinakothek der Moderne stellt das Feld der visuellen Untersuchung anhand von sieben Fallstudien aus fünf Kontinenten vor. Sie zeigen, welche Rolle die Architektur im Gefüge von Aktivismus, Medien und Recht spielt, um Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht zu verteidigen. Vier Forschergruppen stellen ihre Methoden und Inhalte sowie ihre Ergebnisse und Schlussfolgerungen in verschiedenen Formaten vor. Diese reichen von Karten und Filmen bis hin zu Modellen und interaktiven Plattformen. Die Darstellungen der einzelnen Fallstudien, die räumlich und thematisch als in sich geschlossene Einheiten präsentiert werden, sind in einen methodischen Rahmen eingebettet, der die Instrumente der Forscher und deren Entwicklungsgeschichte beleuchtet.
In einer Welt, in der politische und militärische Konflikte sowie die Folgen des Klimawandels immer mehr Menschen zu Flucht und Protest zwingen, erscheint es nur folgerichtig, dass auch die Architektur verstärkt zur Aufklärung von Gewalt und Unrecht beiträgt.
Das Architekturmuseum der TUM bedankt sich bei seinen Kooperationspartner*innen und freut sich, seinen Besucher*innen folgende Untersuchungen präsentieren zu dürfen:
Polizeigewalt bei Protesten in den USA
SITU Research in Zusammenarbeit mit Human Rights Watch und der BLM/Floyd Litigation Task Force der National Lawyers Guild,
2020 und 2022–2023
Während der monatelangen Protestmärsche, die auf die Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch Polizisten am 25. Mai 2020 folgten, griff die New Yorker Polizei immer wieder Demonstrant*innen, unbeteiligte Bürger*innen und juristische Beobachter*innen an. Die Installation zeigt zwei Untersuchungen, die in Reaktion auf diese Zeit der zivilen Unruhen entstanden und die dazu führten, dass illegale Polizeitaktiken aufgedeckt und betroffene Bürger*innen entschädigt wurden.
Geofernerkundung und Landenteignung im Westjordanland
SITU Research in Zusammenarbeit mit Yesh Din, Bimkom – Planning and Human Rights, Michael Sfard, Adam Maloof und Ryan Manzuk, 2023 – fortlaufend
Die laufende Untersuchung, die das Projektteam erstmals im Zuge der Ausstellung öffentlich präsentiert, zielt darauf ab, Veränderungen im Landbesitz und in der Landnutzung im Westjordanland zu dokumentieren und zu analysieren. Da es sich bei dem dort vorherrschenden israelisch-palästinensischen Konflikt um einen territorialen handelt, untersuchen die Ermittler*innen, ob die systematische Diskriminierung auch eine räumliche Dimension besitzt und ob Geofernerkundungswerkzeuge Muster der Landenteignung im Westjordanland erkennen lassen.
Der Klang der Kugeln: Ermittlungen zum Mord an dem kolumbianischen Journalisten Abelardo Liz
Bellingcat in Zusammenarbeit mit Cerosetenta,
2023
Eine immersive Audioinstallation, die eigens für die Ausstellung im Architekturmuseum der TUM entwickelt wurde, rekapituliert den Tod des kolumbianischen Journalisten Abelardo Liz, der am 13. August 2020 während einer Demonstration für Landrechte auf einer Hazienda im Südwesten von Bogotá erschossen wurde. Ziel der Installation ist es, Einzelheiten der Klanganalyse zu teilen, in der Hoffnung, dadurch Forscher*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Journalist*innen und andere zu ermächtigen, diese Arbeit selbstständig auszuführen.
Untersuchung des Netzwerks der Internierungslager in Xinjiang
Alison Killing, Megha Rajagopalan und Christo Buschek für BuzzFeed News, 2018-2020
Mehr als eine Million Muslime sollen seit 2016 in einem geheimen Netzwerk von Internierungslagern und Gefängnissen in Xinjiang, China, festgehalten worden sein. Zu Beginn der Ermittlungen im Jahr 2018 war nur wenig über das Netzwerk und die Orte bekannt, an die die Menschen verschleppt wurden. In einem Film, der 2023 auf der Architekturbiennale in Venedig gezeigt wird, stellt das Team seine Recherchen in acht Kapiteln vor, die chronologisch ihre Vorgehensweise und Schlussfolgerungen präsentieren.
Eine Stadt im Inneren eines Gebäudes: Der russische Luftangriff auf das Theater von Mariupol
The Center for Spatial Technologies in Zusammenarbeit mit Forensic Architecture und Forensis,
2022 – fortlaufend
Das Projekt untersucht die Bombardierung des Theaters von Mariupol am 16. März 2022 und führt die Stimmen derjenigen Bürger*innen, die im Theater untergebracht waren, den Raketenangriff überlebten und nun in der Diaspora leben, in einem digitalen Rekonstruktionsprojekt zusammen. Das resultierende Modell ist eine reichhaltige Sammlung kollektiver und individueller Erinnerungen. In der Ausstellung werden fünf der zehn detaillierten Zeug*inneninterviews gezeigt und ihr Beitrag zum 3D-Modell aufgeschlüsselt.
Dokumentation der Todesflüge
SITU Research in Zusammenarbeit mit Centro Prodh und Alicia de los Ríos Merino,
2023–2024
Gemeinsam mit der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Centro Prodh analysiert SITU Research eines von Mexikos geheimsten staatlichen Programmen zum Verschwindenlassen während des sogenannten „Schmutzigen Krieges“ der späten 1960er- bis frühen 1980er-Jahre. Die Installation zeigt eine 14-minütige Zusammenstellung visueller Beweise zur Aufarbeitung der „Todesflüge“ und weitere Medienobjekte, die das Verhältnis zwischen kollektiver Erinnerung, räumlicher Rekonstruktionen und der Suche nach Beweisen in historischen Aufzeichnungen untersuchen.
Was ist man uns schuldig? Die Klimakrise vor dem Internationalen Gerichtshof
SITU Research in Zusammenarbeit mit der Global Human Rights Clinic der University of Chicago, Pacific Island Students Fighting Climate Change, World’s Youth for Climate Justice und Suneil Sanzgiri, 2023 – fortlaufend
Die Klimakrise trifft in erster Linie diejenigen, die am wenigsten zum Klimawandel beigetragen haben. Während Wissenschaftler*innen, Jurist*innen und Staatsoberhäupter über das Ausmaß der Krise und Möglichkeiten zu ihrer Eindämmung debattieren, haben sich Koalitionen junger Menschen zusammengeschlossen, um auf eigene Faust zu handeln und ihre Heimat vor dem Untergang zu bewahren. Als Teil der aktivistisch-getragenen Bemühungen, die den Internationalen Gerichtshof (IGH) per Resolution auffordern, über Auflagen für die größten Klimasünder*innen zu entscheiden, wird in der Ausstellung eine Filminstallation präsentiert, welche die gelebten Erfahrungen der Gemeinschaften der Inselstaaten des Südpazifiks zeigt, die an vorderster Front der Klimakrise leben.
Kurator*innen: Lisa Luksch, Andres Lepik
Ausstellungsdesign: CPWH, München
Grafikdesign: PARAT.cc, München
Die Ausstellung wurde großzügig unterstützt von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne und dem Freundeskreis Architekturmuseum TUM.
PUBLIKATION
Zur Ausstellung erscheint ein Lesebuch in deutscher und englischer Sprache:
Visual Investigations. Zwischen Aktivismus, Medien und Gesetz. Ein Lesebuch, herausgegeben von Lisa Luksch und Andres Lepik, mit Beiträgen von Bellingcat, Ralf Breker (Bayerisches Landeskriminalamt), The Center for Spatial Technologies (CST), Sam Dubberley (Human Rights Watch), Bora Erden (New York Times), Sam Gregory (Witness), Alison Killing (Killing Architects), Laura Kurgan (Columbia University Graduate School of Architecture, GSAPP), Andres Lepik (TUM Technische Universität München), Lisa Luksch (TUM Technische Universität München), Anjli Parrin (University of Chicago Law School), SITU Research, Patrick Brian Smith (Counter Evidentiary Network) und Lea Weinmann (Süddeutsche Zeitung); DE ISBN 978-3-9817790-3-5, EN ISBN 978-3-9817790-4-2.
DI, 8. Oktober 2024 | 19 Uhr | Gesprächsrunde zur Ausstellungseröffnung (EN)
Am Dienstag, den 8. Oktober 2024, um 19 Uhr veranstalten wir eine öffentliche Gesprächsrunde mit Teilnehmer*innen der Ausstellung im Oskar von Miller Forum, Oskar-von-Miller-Ring 25, 80333 München.
Welche Rolle nimmt die Architektur zwischen Aktivismus, Medien und Gesetz ein, um Menschenrechtsverletzungen aufzudecken und sichtbar zu machen? Das Gespräch zwischen Sam Dubberley (Human Rights Watch), Lea Weinmann (Süddeutsche Zeitung) und Anjli Parrin (Global Human Rights Clinic der University of Chicago Law School) wird moderiert von Architekt Brad Samuels (SITU Research, New York City).
MI, 9. OKTOBER 2024 | 19 Uhr | Ausstellungseröffnung
Am Mittwoch, den 9. Oktober 2024, um 19 Uhr laden wir herzlich zur Ausstellungseröffnung im Architekturmuseum der TUM in der Pinakothek der Moderne, Barer Str. 40, 80333 München.
Zur Eröffnung sprechen Prof. Dr. Juliane Winkelmann (Geschäftsführende Vizepräsidentin für Internationale Allianzen und Alumni, TUM), Prof. Dr. Andres Lepik (Direktor des Architekturmuseums der TUM), Brad Samuels (Leiter von SITU Research, New York City), Lisa Luksch (Kuratorin der Ausstellung) und Sam Dubberley (Direktor der Abteilung für Technologie, Rechte und Ermittlungen bei Human Rights Watch).
MI, 27. NOVEMBER 2024 | 18 UHR | Gesprächsrunde (EN): Ethical Challenges and Collaborative Futures in Digital Investigations
Am Mittwoch, den 27. November 2024, um 18 Uhr laden wir zum Austausch mit Mitglieder*innen des Counter Evidentiary Networks (CEN) in den Pavillon 333, Türkenstr. 15, 80333 München.
Das Counter Evidentiary Network (CEN), eine neue Forschungsinitiative in der School of Arts, Media and Creative Technology an der Universität von Salford, möchte Dialog, kritisches Reflektieren und Wissensaustausch zwischen verschiedenen praxis- und rechercheorientierten Open-Source-Investigations-Gruppen und Einzelnen fördern, die am Aufdecken von Menschenrechtsverletzungen und anderen Formen von Gewalt durch Unternehmen und Politik beteiligt sind.
Es sprechen unter anderem: Patrick Brian Smith (Gründer des CEN, University of Salford), Hadi Al Khatib (Mnemonic), Adebayo Okeowo (WITNESS), Nishat Awan (University College London), Ekin Urgen (Human Rights Watch), Başak Ertür (Goldsmiths) und Andrew Williams (University of Warwick).
WANN?
Vernissage-Rede,Oskar von Miller Forum:
Dienstag, 8. Oktober 2024, um 19 Uhr
Oskar-von-Miller-Ring 25
80333 Monaco
Vernissage Pinakothek der Moderne:
Mittwoch, den 9. Oktober 2024, um 19 Uhr
Barer Str. 40
80333 Münche
Runder Tisch: Ethische Herausforderungen und die kollaborative Zukunft bei digitalen Ermittlungen:
Mittwoch, den 27. November 2024, um 18:00 Uhr
Pavillon 333
Türkenstr. 15
80333 München
Öffentliche Führungen:
„Eine Stunde mit… Kuratorin Lisa Luksch“ jeweils: am Donnerstag, 24.10.2024, Montag, 21.11.2024 und Donnerstag, 12.12.2024, 18.30 – 19.30 Uhr
Ausstellungsführungen jeweils: am Freitag, 18.10.2024 und Freitag, 13.12.2024, 16 – 17 Uhr und am Samstag, 26.10.2024 und Mittwoch, 23.11.2024, 15 – 16 Uhr
Englische Ausstellungsführungen jeweils: am Sonntag, 20.10.2024 und Dienstag, 10.11.2024, 12 – 13 Uhr
Ausstellungsdaten: Donnerstag, 10. Oktober 2024 bis Sonntag 9. Febbruar 2025
WO?
Das Architekturmuseum der TUM der Pinakothek der Moderne
Pinakothek der Moderne
Barer Str. 40
80333 München