Die Ausstellung Chains of Interest setzt die persönlichen Auseinandersetzungen von Isaac Chong Wai, Lizza May David, Wilhelm Klotzek, Ofri Lapid, Adrien Missika und Gitte Villesen mit der Sammlung des ifa–Institut für Auslandsbeziehungen bis zum Januar fort.
Abb. oben: Adrien Missika, Ou/Où, 2018; (Durch Kieselsteinwerfen entstandenes Gedicht. Auf der Insel Serifos gesammelte Kieselsteine, recto/verso Stempeldruck), Courtesy Galeria Francisco Fino, Lissabon und Proyectos Monclova, Mexiko Stadt
Mit Werken von Isaac Chong Wai, Carlfriedrich Claus, Lizza May David, Hannah Höch, Joe Jones, Wilhelm Klotzek, Käthe Kollwitz, Ofri Lapid, Adrien Missika, Elisa Tan, Endre Tót, Gitte Villesen
Seit Herbst 2021 untersuchen sie den Kunstbestand anhand ihrer eigenen künstlerischen Praxis. In der vorangehenden Ausstellung Spheres of Interest aktivierten und kontextualisierten sie die von ihnen ausgewählten Werke performativ und narrativ. Ihre Auswahl ermöglichte kritische und humorvolle Perspektiven auf die besondere Geschichte der Sammlung. Die Künstler:innen entdeckten und beschrieben Leerstellen, politische Verstrickungen und schufen zahlreiche neue Verbindungen zwischen den ausgewählten Kunstwerken.
Chains of Interest ist der zweite Teil der künstlerisch-kuratorischen Untersuchung, der die eingegangenen Beziehungen der Künstler:innen zum Kunstbestand des ifa vertieft. Sie treten mit eigenen, neu entwickelten Arbeiten in den Vordergrund. Dabei kommen verschiedene künstlerische Sprachen, Haltungen und Nachbarschaften zum Vorschein, die sich filmisch, akustisch, linguistisch und spielerisch äußern. In der Ausstellung verbindet sich ein Satz, ein Bild, ein Gedanke oder eine Handlung mit einer anderen und erzeugt eine mehrstimmige Partitur.
Ausgehend von der unbefüllten „Asien“-Grafikschublade im ifa-Depot in Stuttgart entschied Lizza May David, die Text-Bildarbeiten der chinesisch-philippinischen Künstlerin Elisa Tan in der Ausstellung zu präsentieren, um diese Leerstelle symbolisch zu überbrücken. Tans „containers for thought“ zeigen imaginierte, tanzende Landschaften und gehen damit eine Verbindung zu den graphischen Sprachlandschaften von Carlfriedrich Claus ein, die sich gängigen Seh-, Schreib- und Lesegewohnheiten entziehen. Klangvolle mmmms überziehen die neue Malerei von Lizza May David, die von indigenen Gesängen und Mythen beiderseits des Pazifiks in Mexiko und den Philippinen inspiriert sind.
Sprache und Raum begegnen sich bei Wilhelm Klotzek im besonderen Maße auf den tragisch-komischen Bühnen des alltäglichen Lebens. Sein humoristischer Ansatz schafft eine spezifische lautmalerische Sprache, die er in verschiedene Richtungen dehnt und biegt. Künstlerisch verbindet ihn eine persönliche Nähe zu Carlfriedrich Claus, der in der DDR Teil der kritischen Avantgarde war. Anfang der 1990er Jahre stellte das ifa die Tourneeausstellung Denklandschaften zusammen, die sein Werk international bekannt machte. Klotzek wählt für die Ausstellung transparente Sprachblätter von Claus aus und stellt diese seinem Foto-Film DHM (Deutsches Historisches Museum) gegenüber. Die von ihm montierten Fotografien aus dem Archiv von Peter Woelck und Christine Klotzek spiegeln seine Kindheit in Berlin-Ost und das Heranwachsen in den Jahren nach dem Mauerfall wider. Sein Kommentar aus dem Off erzählt davon, wie Geschichte mittels Museumsexponaten, Gegenwartskunst und Träumen kurzgeschlossen wird.
Ausgangspunkt von Gitte Villesens neuem Film ist Hannah Höchs Collage Seidenschwanz. Ihre Erzählung folgt dem gleichnamigen Vogel in verschiedene Gärten und Zeiten. Gleichzeitig verbindet sie mit Strings and Berries Rollenverständnisse und Bezüge der beiden feministischen afro-amerikanischen Autorinnen Octavia Butler und bell hooks. Dabei spielt auch das Gartenhaus von Hannah Höch in Berlin-Heiligensee, in das sie zwei Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gezogen war, eine wichtige Rolle. Höch nutzte den abgeschiedenen Ort, um Dokumente und Kunstwerke ihrer Freund:innen vor den Nationalsozialisten zu verstecken.
Ofri Lapid initiierte eine komplexe Übersetzungskette, die auf Joseph Kosuths lexikalischer Arbeit Titled (Kunst als Idee als Idee) basiert und den Tourneestationen der Ausstellung Kunstraum Deutschland seit 2000 folgt. Daraus entwickelte sie die gleichnamige polyphone Performance mit über 30 Sprecher:innen. Für Chains of Interest erarbeitet sie aus dieser nahezu babylonischen Sprachverwirrung eine neue Audioarbeit. Lapids Verfahren der „stillen Post“, Kosuths Begriffe von einer Sprache in die nächste zu übersetzen – in Analogie zur Tourneeroute – führt zur Dekonstruktion der eigentlichen Definition der Begriffe „meaningless“, „purple“ und „volume“. Die entstehenden Verfremdungseffekte schaffen eine kritische Distanz zu Kosuths schwarz/weißen Sprach-Bildern während sich zugleich die Sprachräume der über 30 Ausstellungsstationen akustisch nachempfinden lassen.
In ihrer Plastik Pietà stellt Käthe Kollwitz eine Mutter mit ihrem toten Sohn in schützender Geste dar. Berührt von diesem Selbstporträt Kollwitz‘ beschäftigt sich Isaac Chong Wai mit der vierfach vergrößerten Kopie der Figur in der Neuen Wache in Berlin, die dort seit 1993 an die „Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ erinnert. Was bewirkt diese Vergrößerung? Wie verändert sich die Wahrnehmung der Skulptur, wenn sie Ausdruck einer staatlichen Trauer und des Gedenkens wird? Wai zeichnet mit seinem Atem die Skulptur nach. Dabei entsteht eine neue Installation mit einer Glasskulptur und Fotografie, die im Dialog mit Kollwitz‘ Original (1937-1939) steht und der Fragilität des Lebens eine Form verleihen.
Adrien Missika gründete mit MOTUS ein mobiles zweirädriges Museum, das die von ihm ausgewählten Fluxus Werke im öffentlichen Raum sowohl präsentierte als auch aktivierte. Für die neue Ausstellung verbindet Missika Endre Tóts poetische Zeichnungsserie Very Special Drawings mit den mechanischen Musikinstrumenten von Joe Jones. Umgeben von minimalistischen Klängen und Zeichnungen der beiden Fluxus Künstler lädt er mit einem Silben-Würfelspiel aus gefundenen Marmorsteinen das Publikum ein zu interagieren. Einem Orakel gleich weisen die gewürfelten Wörter in die Zukunft.
Mit dem zweiteiligen Ausstellungsprojekt Spheres und Chains of Interest reflektieren die eingeladenen Künstler:innen die Sammlungspraxis des ifa und ermöglichen eine neue und öffentliche Auseinandersetzung mit dem deutsch-deutschen Kunstbestand.
Kuratiert von Inka Gressel & Susanne Weiß.
WANN?
Ausstellungsdauer: Freitag, 30. September 2022 – Sonntag, 22. Januar 2023
Öffnungszeiten: Di – So 14 – 18 Uhr ; Do 14 – 20 Uhr
WO?
ifa-Galerie Berlin
Linienstraße 139/140
10115 Berlin-Mitte
KOSTET?
Eintritt frei