HAU Hebbel am Ufer präsentiert ab 23. Juni 2024 Patterns for Life – Feministische Kulturtechniken aus Iran, Israel, Marokko, Palästina, Syrien und Tunesien. Mit: Heba Y. Amin, Maeve Brennan, Yasmeen Godder, Asmâa Hamzaoui & Bnat Timbouktou, HJirok, Bouchra Ouizguen, Mey Seifan / Tanween company & slowfuture, Shieveh Theater Company, Temporal Soundscapes, Mohamed Toukabri.
Abb. oben: Courtesy Hebbel am Ufer, Foto: © Tala Hadid, Compagnie O.
In einer Zeit, die zunehmend von Autoritarismus, Militarisierung und der Zerstörung von Lebensgrundlagen geprägt ist, widmet sich das HAU Hebbel am Ufer mit dem Festival “Patterns for Life” unterschiedlichen Formen feministischer Wissensproduktion als mögliche Gegenstrategie. Die Arbeiten der eingeladenen Künstler*innen werden von Kulturtechniken und Erfahrungen jenseits des vorherrschenden westlichen Kunstkanons inspiriert. Dieses Wissen ist Körpern eingeschrieben und schöpft aus populärkulturellen Praktiken wie Musik, Tanz, Handwerk oder Storytelling. Es dient als Vehikel zur Emanzipation von gewaltvollen Macht- und Geschlechterverhältnissen. Das HAU zieht so Verbindungslinien zum vorangegangenen Festival “¡PROTAGONISTAS! Resistance Feminisms Revolution” (Juni / Juli 2023) und gibt einer transnationalen Kontinuität feministischer Widerstands- und Überlebenspraktiken eine Bühne, mit dem Ziel, eine solidarische und widerstandsfähige Gesellschaft mitzugestalten.
DIALOG
Feminist Knowledge
Mit Kübra Gümüşay, Maryam Palizban u.a.
Moderation: Margarita Tsomou
Ausgehend von den künstlerischen Praktiken im Festival “Patterns for Life” reflektiert der Abend “Feminist Knowledge” über weibliches Wissen. Was als Wissen anerkannt wird, ist von Macht- und Geschlechterverhältnissen bedingt: Weibliches Erfahrungswissen, Kulturpraktiken der Aufrechterhaltung von Leben, Körperwissen, Care-Techniken usw. sind in der Wissensgeschichte marginalisiert und entwertet worden. Mit dem Fokus auf weibliche Kulturtechniken widmet sich die Diskussion den Praktiken, die Leben ermöglichen und kreativ gestalten – der Zerstörung von Kultur, Ressourcen und dem Planeten zum Trotz.
THEATER
Shieveh Theater Company: بچه / The Child / Das Kind
Deutsche Premiere
Drei Frauen werden an der hochgesicherten Grenze zu Europa verhört: Eine Jesidin aus dem Irak, die vor dem Islamischen Staat geflüchtet ist, eine Afghanin, die ihrem gewalttätigen Ehemann entkommen konnte, und eine Libyerin, deren bisheriges Leben von Armut, Hunger und sexueller Gewalt bestimmt war. Und dann ist da noch ein neugeborenes Kind. Keine der drei Frauen bekennt sich zur Mutterschaft, um den Aufenthalt des Kindes in Europa auch im Fall einer Abschiebung abzusichern. Die Wortgefechte zwischen dem Beamten und den Verhörten sind rasant, eine Dolmetscherin versucht zu vermitteln. In “Das Kind” der Regisseurin Afsaneh Mahian werden alle drei Frauen von der international preisgekrönten Fatemeh Motamed-Arya verkörpert. Ihr Schauspiel auf einer Bahn aus Sand zwischen den Publikumstribünen zieht in den Bann und stellt herausfordernde Fragen: Wie sehr behalten sich Einwanderer das Recht vor, dem Schicksal des Geburtsortes zu entfliehen? Macht die Abschiebung von Immigranten die Welt nicht unsicherer? Hat der Einwanderer nicht immer ein Gefühl von Nicht-Identität, Entwurzelung und Entfremdung? Können wir Menschen gewaltsam in ihrem Nationalitätsschicksal einsperren? Waren nicht alle Menschen einmal Einwanderer?
TANZ
Bouchra Ouizguen: Éléphant
Bouchra Ouizguen begeistert das HAU-Publikum seit 2013. In ihrer neuen Arbeit “Éléphant” experimentiert die Choreografin gemeinsam mit ihrer Compagnie O mit dem Erfahrungsschatz traditioneller Gesangstechniken, Ritualen und dem Musikrepertoire der Region Marrakesch. Es entsteht ein fragmentierter kollektiver Körper, dem die Performer*innen, Sänger*innen und Musiker*innen ihre Stimme und Identität leihen. Dieser Körper, der zwischen Stärke und Zerbrechlichkeit oszilliert, dient als Erinnerung an die Vergänglichkeit der Gegenwart. Die zwischen Pracht und Einfachheit pendelnde Arbeit hebt Unterschiede und Gemeinsamkeiten hervor und betont das kostbare und subversive Wesen des Individuums wie des Kollektivs. Ouizguen, die eine der Hauptfiguren des zeitgenössischen Tanzes in Marokko ist, blickt auf die alten Wurzeln ihres Heimatlandes und entwickelt mit ihrer Choreografie eine sensorische Reise durch die Zeit, die die Gegenwart mit neuem Leben und Hoffnung erfüllt.
Yasmeen Godder: Shout Aloud
“Shout Aloud” ist eine einzigartige Gemeinschaftsarbeit der Choreografin Yasmeen Godder und der Sängerin Dikla, einer Größe der nahöstlichen Popszene Israels. Den Ausgangspunkt des Stücks bildet Diklas einflussreiches und bahnbrechendes Album “Ahava Musica” aus dem Jahr 2000, auf dem die Künstlerin sich mit ihrer kompromisslosen tiefen Reibeisenstimme mit persönlichen Texten und Fantasien zu Intimität, Beziehungen, Verlangen und Einsamkeit auseinandersetzte. Durch das beispiellose Spektrum von Einflüssen aus klassischer arabischer Musik, energiegeladener elektronischer Tanzmusik und experimentellem Rock hob sich Diklas Werk auf herausfordernde Art von der üblichen israelischen Musik jener Zeit ab. Das Album hat seit seinem Erscheinen nichts von seiner Relevanz und seiner Schärfe eingebüßt, während sich zugleich die gesellschaftliche Polarisierung in Israel immer mehr zuspitzte und an Gewalt zunahm.
In “Shout Aloud” beschäftigt sich Godder mithilfe ihrer detailreichen und auf komplexe Weise idiosynkratischen, spielerischen und rohen Körpersprache aus weiblicher Perspektive mit Fragen der Duldsamkeit und des Widerstands. Die Auseinandersetzung mit persönlichem und gemeinschaftlichem Durchhaltevermögen und geistigen und gesellschaftlichen Transformationsritualen führt in Verbindung mit dem Rückgriff auf verborgene individuelle Ressourcen zu einem wehrhaften weiblichen Widerstand. Acht Tänzerinnen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Alters performen zu Diklas Live-Aufführung ihres Albums, bei der sie von Musiker*innen auf traditionellen arabischen und zeitgenössischen Instrumenten begleitet wird. “Shout Aloud” stellt eine Antwort dar auf das Bedürfnis, in diesen bewegten Zeiten Zusammenhalt zu stiften, Wunden zu heilen und Erleichterung und Gemeinsamkeit zu finden.
Mohamed Toukabri: The Power (of) The Fragile
Mehrere Jahre war der Tänzer und Choreograf Mohamed Toukabri insbesondere aufgrund der immer undurchlässigeren Grenzen von seiner Mutter Latifa getrennt, ehe er sie schließlich einladen konnte, gemeinsam mit ihm aufzutreten. Die Bühne wird zu ihrem gemeinsamen Land, einem Ort der Begegnung zweier Welten, zweier Tanzsprachen, zweier Leben, die sich auseinanderentwickelt haben und nun wieder zusammenkommen, sich gegenseitig beschwichtigend und einander neu entdeckend.
In “The Power (of) The Fragile” treffen zwei Welten, zwei Körper, zwei Denkweisen aufeinander. Latifa hatte immer davon geträumt, Tänzerin zu werden, doch sie hatte ihren Traum nie laut äußern dürfen; Mohamed dagegen hat das Tanzen zu seinem Beruf gemacht. Die Trennlinien von Körper und Alter zwischen ihnen lösen sich auf, bis kaum noch zu erkennen ist, wo die eine beginnt und der andere endet. Da Worte unzureichend sind, um der Liebe des Sohnes Ausdruck zu verleihen, übernehmen beide Körper diese Aufgabe, sodass der Tanz zur gegenseitigen Liebkosung wird, in Gesten der Fürsorge. Vor unseren Augen verschmelzen behutsam ihre Biografien und ihre Träume, ihre Haut und ihre Identitäten, und nur die Zeit kann ihren Platz zwischen Mutter und Sohn behaupten.
“The Power (of) The Fragile” ist eine Sammlung von Bildern, eine Reflektion darüber, wie das Verhältnis zwischen einer Mutter und ihrem Kind aussehen könnte und was es bedeutet, zu Hause zu bleiben oder aufzubrechen. Der Abend ist eine Performance über die Bewegung, den Körper und das menschliche Individuum, über das Gewicht des Lebens und was wir mit uns schleppen, über Trennung und Zusammensein. Er ist das zärtliche Porträt einer engen Beziehung und ein Plädoyer für das Recht, dorthin zu gehen, wohin wir gehen wollen.
KONZERTE
HJirok / Temporal Soundscapes
Von der iranisch-kurdischen Künstlerin Hani Mojtahedi und dem Musiker und Produzenten Andi Toma (Mouse on Mars) als mythisch fiktionale Figur konzipiert, wandert HJirok durch eine Klanglandschaft bestehend aus bearbeiteten Field Recordings, Sufi-Percussion und Setar-Spuren, aufgenommen im irakischen Teil Kurdistans. Die traditionellen und spirituellen Folkelemente aus Kurdistan und Iran werden dabei von zeitgenössischer Elektronik flankiert und in Aufnahmetechniken des Dub reinszeniert, und zwar so, dass ihre Konturen besser zur Entfaltung kommen.
Hani Mojtahedi ist unter ihrem bürgerlichen Namen in allen kurdischen Regionen (Syrien, Iran, Irak, Türkei) ein Star. Bereits in Iran war sie als Sängerin bekannt, so gründete sie auch die erste Frauenband in Sanandaj. Weil ihre Songs immer stärker der Zensur unterworfen wurden und sie insgesamt dreimal im Gefängnis saß, entschloss sich Mojtahedy 2004, Iran zu verlassen, und lebt seither in Berlin im Exil. Als HJirok zieht sie nun den Geist der Vergangenheit heran, um eine emanzipatorische Zukunftsvision zu formulieren.
“Auf dem Album ‘HJirok’ von Hani Mojtahedy und Andi Toma reiben sich Kulturtechniken respektvoll. Es ist eines der Ereignisse dieses Musikfrühjahrs,” schreibt Julian Weber in der taz.
Für ihr Solo Projekt “Temporal Soundscape” reichert die multidisziplinäre Künstlerin und ausgebildete Kanun-Spielerin Yael Lavie das meditativ mäanderne Spektrum ihres Instruments um analoge Elektronik und Drum-Machine-Sounds an. Angetrieben von einer Faszination für spirituelle Musik, Elektronik und experimentellen Jazz war Lavie, neben ihrer Arbeit als Solo-Künstlerin, auch Mitglied der transnationalen Band Spiritczualic Enhancement Center und ist Teil des Trio-Projekts Leviot.
Asmâa Hamzaoui & Bnat Timbouktou
Die Tradition der Gnawa Musik geht zurück auf eine vor Jahrhunderten nach Marokko versklavte Minderheit aus der süd-westlichen Sub-Sahara.
Asmaa Hamzaoui und Bnat Timbuktu, herausragende Protagonistinnen des Genres, führen diese Praxis ins Hier und Jetzt. Getragen von polyrhythmischer Percussion, dem repetitiven Klang der Gimbri und chorischen Response-Gesängen entfaltet sich Hamzaouis eindringliche Stimme zu einer reinigenden Kraft. Mit ihrem im Frühjahr 2024 erschienenen LP Oulad Lghaba betont Hamzaoui die spirituelle Seite von Gnawa. In der Gnawa Sprache thematisiert sie aber auch afrikanische Lebensrealitäten und die Bedeutung eines Lebens in Harmonie mit der Umwelt wie in Gleichberechtigung.
AUSSTELLUNG
Resilience and Remembrance
Zusätzlich zum Bühnenprogramm sind im HAU2 Arbeiten der Künstlerinnen Heba Y. Amin, Maeve Brennan und Mey Seifan / Tanween company & slowfuture zu sehen. In ihren Arbeiten reflektieren die Künstlerinnen vielfältige Perspektiven auf politische und soziale Themen, die mit Flucht und Heimat verbunden sind. Sie erforschen die Auswirkungen geopolitischer Veränderungen auf individueller und kollektiver Ebene sowie damit einhergehende persönliche Geschichten und Emotionen.
“Operation Sunken Sea” (2018 – fortlaufend) von Heba Y. Amin ist ein vielgestaltiges Forschungsprojekt, das auf die derzeitige politische Unsicherheit in Europa, die Unruhen und den Zusammenbruch von Nationalstaaten im Nahen Osten und das neoliberale Scheitern der Globalisierung in Afrika reagiert. Heba Y. Amin betrachtet darin die Veränderung von territorialen Konstrukten, deren Auswirkungen auf neue geopolitische Allianzen und die globale Politik. “Operation Sunken Sea” imitiert die Sprache faschistischer Regime und animiert zur Schaffung einer neuen Vision für Afrika und den Nahen Osten. Die Aufmerksamkeit wird darauf gelenkt, was durch und für jene, die in den letzten 100 Jahren von den Kriegen um Öl, Ressourcen und Macht am stärksten betroffen waren, erreicht werden könnte. Im Rahmen von “Patterns for Life” werden die Skulptur “Visions of the Sea I” (2018) und die Fotografie “The Master’s Tools I (Restaging of Herman Soergel’s Portrait)” (2018) aus dem Projekt präsentiert.
“The Embroiderers” (2016) von Maeve Brennan dokumentiert Geschichten von sechs Frauen, die heute mit palästinensischer Stickerei arbeiten: Umm Ibrahim (Amman, Jordanien), Wahiba Mohammad Ali Tawafsha (Sinjil, Palästina), Raja Sabri el-Zeer (Salfit, Palästina), Suhair Odeh (Dheisheh Camp, Bethlehem, Palästina), Nawal Mahmoud (Saida, Libanon) und Maryam Malakha Abu Laban (Amman, Jordanien). Durch persönliche Berichte erzählt der Film die Bedeutung dieses intimen und zutiefst politischen Handwerks und zeigt, wie es Vorstellungen von palästinensischem Erbe, Geschichte, Arbeit und Widerstand Gestalt verleiht. Der Film zeigt immer wieder Umm Ibrahims Hände, die die Seiten eines Buches mit palästinensischen Stickmustern umblättern. Jeder Satz von Mustern steht für eine andere Stadt mit ihren eigenen einzigartigen Farben und Motiven und beschwört mit jedem Stich die Landschaft Palästinas herauf.
Mey Seifan / Tanween company & slowfuture nehmen in ihrer VR-Installation “How Am I Here?” (2023) Träume von geflüchteten und traumatisierten Menschen und ihren Gefühlen bezüglich einer möglichen Rückkehr in den Fokus. Millionen von Menschen werden durch Kriege vertrieben und sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. “Wo ist der schützende Unterschlupf, wenn die Rückkehr in die Heimat zum Albtraum wird?” fragte Mey Seifan in den Interviews, die sie für das Projekt geführt hat. Die Geschichten, von denen die Interviewten berichteten, entstehen im Vakuum zwischen alptraumhafter Heimkehr und der beklemmenden Realität des Exils. Das Projekt beinhaltet choreografische Elemente sowie KI-generiertes Material und überträgt so die Träume in die virtuelle Realität, in der die Besucher*innen in ein Traum-Archiv eintauchen können. In verschiedenen virtuellen Räumen erlebt der*die Betrachter*in eine audiovisuelle Reise, von denen jeder Raum Themen der wiederkehrenden Träume repräsentiert.
WANN?
Dialog: Sonntag, 23. Juni 2024, um 18:00 Uhr
Theater: Sonntag, 23. und Montag, 24. Juni 2024, um 20:00 Uhr
Tanz:
Bouchra Ouizguen: Freitag 28. und Samstag, 29. Juni 2024, um 20:00 Uhr
Yasmeen Godder: Montag, 1. und Dienstag, 2. Juli 2024, um 20:00 Uhr
Mohamed Toukabri: Dienstag, 2. und Mittwoch 3. Juli 2024, um 20:00 Uhr
Konzerte:
HJirok / Temporal Soundscapes: 27. Juni 2024, um 20:00 Uhr
Asmâa Hamzaoui & Bnat Timbouktou: Mittwoch, 3. Juli 2024, um 20:30 Uhr
Ausstellungsdaten: Sonntag, 23. Juni bis Mittwoch, 3. Juli 2024, 19:00 Uhr – 22:00 Uhr
WO?
HAU1:
Stresemannstraße 29
10963 Berlin
HAU2:
Hallesches Ufer 34
10963 Berlin
Dialog: HAU1
Theater: HAU2
Tanz:
Bouchra Ouizguen: HAU2
Yasmeen Godder: HAU1
Mohamed Toukabri: HAU2
Konzerte: HAU1
Ausstellung: HAU2
KOSTET?
Dialog: Normalpreis: 5 EUR, Ermäßigt: 3 EUR
Theater: Normalpreis: 17 EUR, Ermäßigt: 9 EUR, Tanzcard: 14 EUR
Tanz: zwischen 13 und 22 EUR
Konzerte: Normalpreis: 17 EUR
Ausstellung: Eintritt frei