Landesvertretung Niedersachsen zeigt seit 5. Juni 2024 Die Erschöpften von Philipp Modersohn. Im Garten der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin, gleich um die Ecke vom Potsdamer Platz, steht eine Gruppe von Statuen mit goldener Patina auf grauen Betonsockeln, die vor dem Hintergrund der modernen Architektur des Gebäudes explizit historisch anmuten. Tatsächlich handelt es sich um Kopien frühneuzeitlicher Plastiken, deren Vorlagen den Herrenhäuser Gärten in Hannover entstammen. Die barocke Parkanlage zählt zu den bedeutendsten ihrer Art in Europa und beinhaltet das älteste und einzig erhaltene Heckentheater in Deutschland. Ende des 17. Jahrhunderts wurden dort insgesamt 27 lebensgroße, vergoldete Bleifiguren von griechischen Göttern und deren mythologischem Begleitpersonal aufgestellt, von denen eine kleine Gruppe in Form von exakten Kopien 1974 ihren Weg nach Berlin gefunden hat. Es sind diese Nachbildungen, die heute im Garten der Niedersächsischen Landesvertretung anzutreffen sind.
Abb. oben: foto Roman März
Streng, in einer Linie und in gleichem Abstand unweit der Grundstückskante aufgereiht, schauen sie von einer Hecke in ihrem Rücken geschützt über den Zaun hinweg in Richtung des gegenüberliegenden Tiergarten Parks. Eine der Plastiken glänzt jedoch seit einiger Zeit bereits durch Abwesenheit. Der entsprechende Sockel ist verwaist; und zwar ganz bewusst. Soll er doch Raum für künstlerische Interventionen bieten. Auf Einladung der Niedersächsischen Landesvertretung sind wechselnde zeitgenössische KünstlerInnen in loser Folge aufgefordert, auf die vorhandene Situation zu reagieren und die Lücke im barocken Figurenreigen im Kontext der eigenen Praxis zu bearbeiten. Veranstaltet wird diese Reihe künstlerischer Eingriffe mit dem Titel Szenenwechsel in Kooperation mit dem Netzwerk Niedersächsischer Kunstvereine.
Der in Berlin lebende Bildhauer und Videokünstler Philipp Modersohn stellt den güldenen Abbildern antiker Götter und Satyrn in seinem Beitrag nun eine vollkommen andersartige, amorphe Gestalt zur Seite, die aus nichts anderem als mehreren Stücken Torf besteht und im Kreis ihrer illustren Nebenleute wie die Manifestation eines animistischen Naturgeistes anmutet. Die Wahl des bildhauerischen Materials kommt dabei nicht von ungefähr. Als organisches Sediment aus Pflanzenstoff bildet Torf ein Archiv vergangener Landschaften. Er entsteht in Mooren, die heute zwar nur noch zwei Prozent der Erdoberfläche bedecken, aber ein Drittel des weltweit im Boden gebundenen Kohlenstoffs speichern. Niedersachsen ist zu knapp zehn Prozent von Mooren bedeckt und damit die moorreichste Region Deutschlands. Philipp Modersohn, der dort aufgewachsen ist, ist mit diesem besonderen Landschaftstyp seit frühester Jugend vertraut. Als Bildhauer arbeitet er mit Sedimenten sowie mit Materialien, die aus solchen bestehen oder auch hergestellt werden. Torf gehört auch dazu und ist in Modersohns Praxis vor allem dort anzutreffen, wo, wie im vorliegenden Fall, ein konkreter Bezug zum Material gegeben ist. Die Torfstücke, die im Garten der Landesvertretung verarbeitet sind, hat Modersohn im Umfeld seiner alten Heimat aufgesammelt und als Hauptbestandteil und Leitmotiv seiner skulpturalen Intervention nach Berlin verpflanzt; letzteres wiederum dezidiert spielerisch bzw. so, dass es den Eindruck macht, als ob die Torfstücke von sich aus auf Wanderschaft gegangen seien, um den leeren Sockel auf dem Gelände des niedersächsischen Außenpostens im Zentrum der Bundeshauptstadt zu bevölkern.
Zur Installation gehört auch ein Hörstück, das aus nahestehenden Lautsprechern ertönt und in dem Modersohn den Torf für sich selbst sprechen lässt. Das Material protestiert gegen die Austrocknung der Moore im Zusammenhang mit dem menschengemachten Klimawandel und den damit verbundenen Verlust der eigenen Bestimmung, der natürlichen Funktion als Kohlenstoffspeicher von globaler Dimension. Die Erschöpften als Titel der Arbeit bezieht sich einerseits auf den Torf, anderserseits aber auch auf uns Menschen. Während der Torf von der Ausstrocknung seines Habitats (sowie dem langen Marsch nach Berlin) erschöpft ist, sind wir Menschen erschöpft von den Konsequenzen unseres eigenen Wirtschaftens, dessen höchstes Gebot vom unablässigen Wachstum langsam aber sicher dafür sorgt, dass wir unsere Lebensgrundlage auf der Erde zerstören. Gleichzeitig spielt Die Erschöpften auf verwandte Motive aus der Kunstgeschichte an, sei es die christliche Pietà oder auch andere Darstellungen von Leid und Schwäche wie etwa Wilhelm Lehmbrucks Gestürzter. Modersohns Torf-Skulptur steht in bewusstem Kontrast zur dynamischen Anmut der sie umgebenden Barockstatuen, reiht sich in der direkten Gegenüberstellung aber auch wie selbstverständlich in diese ein. Beiden gemeinsam ist der ortsspezische Verweis auf Orte und Landschaften in Niedersachsen. Die Stimmung unter Ihnen im Garten der Landesvertretung ist erfüllt von heiterem Ernst.
WANN?
Vernissage: Mittwoch,5. Juni 2024, von 17 bis 19 Uhr
Ausstellungsdaten: Donnerstag, 6. Juni 2024 bis Mittwoch, 4. Juni 2025
Öffnungszeiten: Dienstag bis Samstag von 11.00 bis 18.00 Uhr
WO?
Landesvertretung Niedersachsen
Pohlstraße 67
10785 Berlin