Die in Berlin lebende chinesische Künstlerin, Kuratorin und Autorin Dr. Mei Huang hat im Rahmen der von ihr kuratierten Gruppenausstellung “ÜBERSCHAU #03: HUMANITY – Chinese Art Positions” im CSR Contemporary Show Room ein raumgreifend von ihr geschaffenes, installatives Kunstwerk erstmals einem größeren Publikum präsentiert. Ergänzt wurde die konzeptuelle Arbeit, die sich mit der Umwandlung medizinischer Kolostomiebeutel in ästhetische Objekte beschäftigt, von einer Lesung der Autorin inmitten ihres eigenen Kunstwerks. Der Lesung aus ihrer Autobiografie “Reflexionen – Lieben bis zum Tod” folgte eine Diskussionsrunde über die Selbstbestimmung von Frauen und ein emanzipiertes Leben in den verschiedenen Gesellschaftssystemen.
Der folgende Rückblick auf Ausstellung und Lesung wurde verfasst von Shanshan Chen.
Abb. oben: Mei Huang, Video Still, Performance “Love until Death”
1. Juli 2022, 17 Uhr – ein hochsommerlicher Nachmittag in Berlin, der deutschen Hauptstadt. Von vielen mit Spannung erwartet, eröffnete an diesem Tag die Kunstausstellung “ÜBERSCHAU #03: HUMANITY – Chinese Art Positions” im CSR Contemporary Show Room in der Friedrichstraße. Die von Dr. Mei Huang kuratierte Ausstellung präsentierte Werke der sechs chinesisch-deutschen Künstler:innen Lan Jing, Huang Jia, Peng Xiaojia (aka XJ Peng), Yu Xingze, Xianwei Zhu und Mei Huang. Sie bildete einen institutionellen Teil der Ausstellungsreihe “ÜBERSCHAU” im CSR Contemporary Show Room, der zeitgenössische Kunst nationaler und internationaler Künstler:innen in Berlin präsentiert. Die institutionelle Ausstellung HUMANITY dauerte einen Monat bis zum 30. Juli 2022.
“Sie erschafft” – Kunst-Energie Raum
In der Ausstellung wurde insbesondere ein raumgreifendes Kunstwerk präsentiert, das ungewöhnlich beeindruckend war und zum Nachdenken anregte. Die Aufmerksamkeit der Besucher:innen wurde zunächst durch ein vor Ort ausgestelltes Modestück angezogen – und durch die beiden 100 x 200 cm großen Fotografien einer Frau, gekleidet im selben Modestück. Auf dem einen Foto wirkt die dargestellte Frau durch die intensive weibliche Ausstrahlung unserer modernen Zeit wie gestärkt, während sie auf dem anderen Foto wie ein schlafendes Baby in seiner Wiege erscheint.
Die Ausstellungsbesucher:innen konnten sich der Transparenz und der ungewöhnlichen Beschaffenheit des Kleidungsstücks nicht entziehen. So entstanden Fragen: Woraus ist dieses Kunstwerk gemacht? Warum hat die Künstlerin es hergestellt? Mit dieser Neugier gingen die Besucher:innen weiter und sahen im angrenzenden Teil des Raums Dutzende von verträumten Bändern, die luftig baumelnd von der Galeriedecke hingen. Jedes Band natürlich und sanft gebogen, einem leichten Rock ähnelnd und verlockend, hindurch zu gehen. Die Bänder wurden aus dem gleichen Material wie das Kleidungsstück gefertigt. Unter den Bändern war ein Teppich aus eben jenem Material ausgebreitet, und die Besucher:innen hatten die Möglichkeit, sich auf Sitzsäcke, sogenannte Poufs, aus dem gleichen Material zu setzen oder zu legen, so dass sie in die auf einem Bildschirm gezeigte Video-Performance der Künstlerin eintauchen konnten. Beim Betrachten des Videos, in dem die Künstlerin den schmerzlichen Prozess von Erkrankung, Operation und Überlebenskampf darstellt, verspürten viele Besucher:innen, gleichsam spiegelnd, unangenehme und diffuse Schmerzen. Aber dieser Schmerz, so die Künstlerin, ist ein positiver, denn er regt zum Nachdenken an.
Nach dem Betrachten der Performance hatten die Besucher:innen ein gewisses Verständnis für das Werk erlangt und konnten dies mithilfe der Informationen an der Wand und der autobiografischen Literatur der Künstlerin in chinesischer und englischer Sprache vertiefen. Auch die Mitarbeiter:innen der Galerie waren offen für Fragen und führten die Gespräche behutsam und tiefergehend. An diesem Punkt schienen die Besucher:innen den Sinn der Installation gänzlich zu begreifen, denn sie entdeckten auf den Boden gelegte, englische und deutsche Wörter wie “True Story”, “Love” und “Stoma Beutel”. Sie erkannten die Kunstwerke, die sie vor sich sahen, nun nicht mehr nur als “Mode”. Stattdessen spürten sie eine sanfte Berührung, eine sich abzeichnende Reflexion über das Leben, eine Kraft, die sie vorwärts drängt. Eine ähnliche interpretatorische Erfahrung äußerten auch die Ausstellungsbesucherinnen Cornelia Renz, etablierte deutsche Künstlerin, sowie Gu Lei, die ihr Kunststudium in London absolvierte und in New York und Paris gearbeitet hat.
Die Schöpferin der Installation, Mei Huang, bricht ein Tabu in der chinesischen Kultur, indem sie sich mit dem Thema Tod auseinandersetzt. Das Kunstwerk wurde unter Verwendung medizinischer Produkte, sogenannter “Kolostomiebeutel” oder “Stomabeutel”, geschaffen, die für Krebspatient:innen im Endstadium bestimmt sind, weil sie nach einer Operation ihren Anus oder ihre Harnröhre verloren haben. Die Unannehmlichkeiten, Schmerzen und die Peinlichkeit für die Patient:innen liegen jenseits des Verständnisses und der Vorstellungskraft gesunder Menschen. Dr. Huang, die in den letzten 22 Jahren selbst mehr als 20.000 Kolostomiebeutel benutzt hat, nähte sie für ihr Kunstwerk Stück für Stück zusammen, um so ein beeindruckendes und einzigartiges Werk zu schaffen.
Mit ihren Werken möchte Mei Huang eine wichtige Botschaft vermitteln: Das Leben ist auch nach einer Krebserkrankung noch voller Möglichkeiten. Man kann noch immer eine romantische Beziehung führen, eine On-Off-Ehe eingehen und eine nie endende, sinnvolle und geliebte Karriere machen, während man seine Kinder großzieht. Selbst wenn es hundertfach schwieriger wird, kommt der Fortlauf des Lebens zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder spürbar in Gang – und das Leben bleibt bunt.
Die Besucher:innen konnten regelrecht spüren, dass dieses Gesamtkunstwerk einen großen Raum künstlerischer Energie darstellt. Jedes einzelne Werk, ob groß oder klein, ob Fotografie, Installation, Bänder, Sitzsäcke oder literarische Schriftstücke, enthält die Energie von Kampf, Erfahrung und Liebe im Leben. Und diese Energie kann durch das Teilen in Resonanz treten, wachsen, sich ausdehnen und erweitern. Dr. Huangs Kunstwerk, inspiriert durch ihre Lebenserfahrung und ihren Kampf gegen die Krebserkrankung vor nunmehr über 20 Jahren, ist in seiner individuellen Form weltweit einzigartig und kann nicht nachgeahmt werden.
Lesung und Gespräch
Die Lesung aus ihrer Autobiografie “Reflections, Love until Death” und das Gespräch mit Dr. Mei Huang fanden am 21. und 27. Juli 2022 statt – umrahmt von ihrem installativen Kunstwerk. Die auf Englisch und Chinesisch erschienen Bücher wurden zur Veranstaltung bereits in Auszügen in die deutsche Sprache übersetzt.
An dem anschließenden Künstlergespräch nahmen teil: Sabine Schneider, seit 2007 die erste Frau als Präsidentin des Vereins Berliner Künstler von 1841, Damur, Berliner Modedesigner, Dr. Meng Schmidt-Yin, Doktorin der Kunstgeschichte, Dr. Sakar Zereen, Soziologin an der Humboldt-Universität zu Berlin, und ein Journalist von Russia Today. Weitere Gäste waren: Prof. Peter Braun-Feldweg, Herr und Frau Shuai Wang von der Musikschule Philharmonika Berlin, Mathias Mark von der Medizintechnikfirma Coloplast, Anke Jahn-Sawatzki, Prof. Jiayin Zhang, die sich vor kurzem aus der Ukraine in Berlin niedergelassen hat, und Dr. Long Rujia, Direktor von Voice of Knowledge. Moderiert wurde die Veranstaltung von Stephanie Schneider, Medienmacherin für zeitgenössische Kunst, studierte Kulturanthropologin und künstlerische Leiterin des CSR Contemporary Show Room.
Anlässlich des 50. Jahrestages der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und Deutschland diente diese Veranstaltung auch als Plattform für die Förderung des interkulturellen Austauschs zwischen China und Deutschland anhand von Kunst.
Stephanie Schneider eröffnete die Veranstaltung, indem sie Dr. Mei Huang und ihre Bücher vorstellte und den Einleitungstext der Bücher von Dr. Mei Huang mit ihrer professionell geschulten Theaterstimme vorlas. Dr. Mei Huang, gekleidet in einen prächtigen blauen Cheongsam, las danach aus ihrem Buch die Passage mit dem Titel “Wie hat chinesische Magie einen deutschen Mann über Nacht erobert?”. In der zweiten Hälfte der Veranstaltung trug die Künstlerin das in der Ausstellung präsentierte Kostüm, das sie aus den medizinischen Kolostomiebeuteln, die sie täglich benutzt, entworfen und angefertigt hatte, um damit die Geschichte von der Überwindung ihrer Krankheit zu erzählen. Obwohl die Veranstaltung in deutscher Sprache stattfand, erzählte sie “ihre Geschichte” in chinesisch-kulturellem Kontext.
Dr. Mei Huangs Autobiografie “Reflections, Love until Death” erzählt die Geschichte einer unabhängigen Frau, die nach ihrer Krebsdiagnose wieder die Kraft fand, sich ihrer Familie, ihrem Leben und ihrer Karriere zu widmen. Sie zeigt die enorme Stärke einer Frau und ihre Widerstandsfähigkeit im Kampf gegen den Krebs. Dazu Mei Huang: “Es ist ein Selbstmotivationsbuch für die Frauen von heute, das von mir, einer weiblichen Intellektuellen, geschrieben wurde, die mit 16 Jahren an der Peking-Universität studiert hat, in ihren 20ern ein Postgraduiertenstudium an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften absolvierte und mit 32 Jahren als erste Chinesin einen deutschen Doktortitel in Kunstpädagogik erlangte, aber mit 36 Jahren einen schweren Rückschlag im Leben erlitt. Dieses Buch ist noch mehr eine inspirierende Geschichte für Patienten auf der ganzen Welt.”
In der Einleitung des Buches heißt es: “Mein wirkliches Leben begann, als ich nach einer Krebserkrankung im Endstadium eine alleinerziehende Mutter wurde. Im Alter von 36 Jahren schlugen in Berlin, der Hauptstadt eines fremden Landes, drei schwere Bomben in mein Leben ein: Darmkrebs im Endstadium, Lymphmetastasen und eine Leber voller kleiner Tumore. Dann wurde ich auf den Operationstisch gerollt. Obwohl die Ärzte mir nach der Operation das Leben retteten, konnten sie mir nicht sagen, wie ich weiterleben sollte. Mein Mann kehrte nach China zurück, in der Hoffnung, sein eigenes Unternehmen zu gründen und ein großes Vermögen zu machen. Zu meinem Erstaunen verliebte er sich später in meine Schwester, die verheiratet war und genau wie ich einen Sohn hatte. Schließlich verließ er mich. Ich konnte keine Kinder mehr gebären. Ich blieb mit einem anderthalbjährigen Sohn in Deutschland zurück, ohne Verwandte in der Nähe. Mein Schicksalsschiff schien auf die Insel des Todes hin zu segeln, begleitet von düsteren, dunklen Wolken und tosenden, schwarzen Wellen. Wird es mir gelingen, den Krebs zu besiegen? Werde ich mich jemals von dem Herzschmerz erholen können? Wie kann ich eine alleinerziehende Mutter sein? Werde ich es wagen, mit meinem vernarbten Körper wieder zu lieben? Werde ich jemals wieder ein wunderbares und erfülltes Leben führen können?”
Die Präsidentin des Verein Berliner Künstler Sabine Schneider lobte die Umsetzung von Mei Huangs inspirierenden Geschichten in Kunst und Literatur. Dr. Sakar Zereen, die an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich der Gleichstellung von Frauen forscht, bedankte sich für die Gelegenheit, Frauen zu sehen, die ihre Kraft und ihr Selbstvertrauen auf eine so besondere künstlerische Weise zeigen. Darüber hinaus betonte sie die derzeitige Kluft zwischen der akademischen Forschung über Feminismus und dem tatsächlichen Handeln und wie diese Veranstaltung ihr einen neuen Ansatz gezeigt hat. Dr. Long Lijia brachte ihre Bewunderung für Dr. Mei Huangs Mut zum Ausdruck, mit dem sie sich gegen die Widrigkeiten des Lebens wehrt. Sie betonte ihre Bewunderung, wie Dr. Huang inmitten so vieler stressiger und verzweifelter Situationen mit stets neuer Kraft weitermache, und diskutierte mit Dr. Mei Huang auch über neue Möglichkeiten für die jüngere Generation intellektueller Frauen, unabhängig zu werden.
Dr. Mei Huangs Buch-Event führt die Besucher:innen durch ihren Mut im Kampf gegen die Krankheit und die verjüngende Kraft weiblicher Stärke, indem sie in einem künstlerischen Kontext liest, der auf einer Geschichte basiert, die mit einem blauen Cheongsam beginnt und nicht (!) mit einem Kostüm aus einer medizinischen Tasche im Kampf gegen den Krebs endet. Dr. Mei Huang teilt einige ihrer Überlegungen, während sie auf ihr Leben zurückblickt und zugleich den Blick auf die Zukunft richtet. Denn die Freude des Lebens besteht darin, vorwärts zu gehen, um den Himmel zu erreichen, den man sich wünscht, und die Freiheit des Geistes zu erlangen.
Ausblick
Bei der Ausstellung im Berliner CSR Contemporary Show Room präsentierte Dr. Mei Huang ihren “Art Energy Space” in einem White Cube. In der Zwischenzeit wurde Dr. Huang auch zur Teilnahme an der Ausstellung “Bald Girls” des gleichnamigen Künstlerkollektivs in Düsseldorf eingeladen, die vom 14. Juli bis zum 6. August 2022 stattfand und ihr zehnjähriges Bestehen feierte. Ihr Kunstwerk dort war ein “Art Energy Space”, in dem ein “Kolostomiebeutel”-Kleid für Frauen auf männlichen Modellen zu sehen war, das die Weiblichkeit der Frauen nach außen und ihre Stärke nach innen zeigte.
Micha Krisch, der Leiter von Kunst und Haltung e.V. in Düsseldorf, lobte die Kunstwerke von Dr. Huang und das philanthropische Engagement der Künstlerin und erklärte, dass er das Kooperationsprojekt auch in Zukunft fortsetzen möchte. Dr. Mei Huang ergänzte, dass vierzig der achtzig von ihr angefertigten “Energiebänder” bei diesen beiden Ausstellungen ausgestellt worden sind.
Gemeinsam mit ihrem Team wird sie weiterhin neue Kunst-Energieräume präsentieren, die Werke in ihre philanthropischen Projekte einbringen, um die Welt zu bereisen, sich in Kunstkontexte einzubringen, Dialoge zu führen und die Botschaft des Optimismus, des Friedens, der Demokratie, der Unabhängigkeit und des unnachgiebigen Bemühens um das Gute in alle Ecken der Welt zu tragen.
Chinesischer Text: Shanshan Chen. Fotos: Xu Chen, Anna Maria Baur, MMAE 720. Englische Übersetzung: Zhao Dong. Übertragung aus dem Englischen: Stephanie Schneider