Die Kunsthalle Münster präsentiert ton not. not ton, ein Konzert, eine Performance und eine Ausstellung vom 06.05. bis 04.06.2023. Ton not. not ton widmet sich dem Klang der Dinge, lässt ihn in akustischen Interventionen, Objekten im Raum und der eigenen Imagination in Erscheinung treten. Es geht um das Durchdringen von visueller Kunst mit Musik. Dabei liegt die Aufmerksamkeit der zweiten Ausgabe auf Texturen, Frequenzen, Strukturen, Farben, Mustern und Bewegung. Zugleich wird die Partitur bzw. Choreografie als formgebendes und visuelles Instrument in den Blick genommen. ton not. not ton beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie Klang Bewegung, Räume, Dynamik und vor allem Zeit artikuliert. Ebenso wie den musikalischen Beiträgen wohnt auch den Werken der visuellen Kunst Rhythmus inne, wodurch ihnen eine eigene Performativität zukommt.
Abb. oben: Lisa Alvarado, Vibrierende Kartographie: Nepantla, 2021, Acryl, Tinte, Gouache, Leinwand, Jute, Fransen, Polyester, Holz, 228,6 x 207 cm / Acrylic, ink, gouache, canvas, burlap, fringe, polyester, wood, 228.6 x 207 cm. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers, The Modern Institute / Toby Webster Ltd, Glasgow und / und Bridget Donahue, New York. Foto: Tom Van Eynde
Channa Horwitz (1932–2013) arbeitete seit Anfang der 1960er Jahre an einem zeichnerischen System. Abgeleitet aus dem Format des amerikanischen Standard Millimeterpapiers, stellt die Künstlerin Zeit mittels grafischer Einheiten und Bewegung in der Zeit als dazugehörige Farbschemata dar und entwirft daraus Strukturen, die zeiträumliche Verhältnisse in Zeichnungen übersetzen. Die meisten ihrer Zeichnungen beruhen auf der Zahlenfolge eins bis acht und einem jeder Ziffer zugeordneten Farbcode. Sie dekliniert die Zahlenfolgen in immer neuen Variationen durch, entwickelt sie zu höchst komplexen Strukturen. Ihre Arbeiten gleichen grafischen Notationen, die entschlüsselt werden wollen. Für Horwitz bedeutete die bewusste Beschränkung auf einfachste Regeln keine Einschränkung im Namen einer kreativen Selbstzensur, vielmehr war es ein Versuch, eine ästhetische Sprache zu finden, die so rein und unberührt von den Bedeutungen der Welt ist, dass sie das Vergehen der Zeit mit annähernder Präzision wiedergeben kann. “If I wanted to experience freedom,” sagte Horwitz 2005 in einem Gespräch mit Chris Kraus, “I needed to reduce all of my choices down to the least amount.”
Seit den späten 1960er Jahren hat Horwitz eine Reihe von Zeichnungen, die sie unter dem Titel Sonakinatographien – eine Zusammensetzung der griechischen Wörter für „Klang“, „Bewegung“ und „Notation“ – fasst, auch als choreographisches Ausgangsmaterial für Performances genutzt. Ihre Stücke verschieben die Genregrenzen zwischen Tanz, Performance und bildender Kunst. Insgesamt sind drei Werke aus dem Komplex der Sonakinatographien zu sehen: Sonakinatography XI Variation II (1981), Sonakinatography Composition XXII Number 2 (1981) und Sonakinatography Composition XXIII (2002). Von 1968 bis kurz vor ihrem Tod arbeitete die Künstlerin an unzähligen Varianten der 23 unterschiedlichen Kompositionen der Serie. Jede dieser Zeichnungen kann musikalisch oder choreographisch interpretiert und als Konzert, Performance oder Rauminstallation umgesetzt werden. Während der Eröffnung der Ausstellung ist eine Interpretation der Werke von der Klangkünstlerin und Akkordeonistin Anja Kreysing zu hören. Sie setzt ihr computerisiertes Akkordeon ein, um die Partituren zu spielen.
Lisa Alvarado (geb. 1982) ist bildende Künstlerin und Musikerin. Ihre künstlerische Praxis ist inspiriert von einer Textiltradition und öffentlichen Wandmalerei in Amerika, den Erfahrungen ihrer Familie als mexikanische Amerikaner:innen in der Grenzregion, der Chicano-Bewegung und ihren musikalischen Auftritten mit der Band Natural Information Society, in der sie das Harmonium spielt. Die Farben, die sie in ihren Malereien verwendet, erinnern an modernistische Gemälde, die geometrischen Kompositionen dagegen an mexikanische Textilien. Ihre Werke schweben zwischen den Kategorien. Einige der grafischen Stufenformen, prismatischen Kompositionen, sich schlängelnden oder zickzackförmigen Mustern und glyphenartigen Formen scheinen von Maya-Textilien inspiriert; andere der gemalten Flächen erinnern an Wüstengestrüpp, Korallenriffe und Luftaufnahmen. Alvarado begann 2010 mit der Herstellung der Werke als tragbare Sets für Natural Information Society. Sie ermöglichen es dem Publikum, sich auch visuell in die Dynamik des klanglichen Geschehens hineinziehen zu lassen. Wenn man ihre Leinwände betrachtet, hat man das Gefühl, dass man mehr sehen kann, je länger man sie anschaut. Linien beginnen zu verrutschen, Muster wimmeln, scharfe Winkel verschieben sich, Farben leuchten auf, Formen scheinen in Bewegung.
Unter dem Titel Quadrat erschien 1980 das erste von Samuel Becketts (1906–1989) minimalistischen Fernsehstücken, die er für den Süddeutschen Rundfunk realisierte. Es operiert mit dem seriellen Spiel eines Bewegungsmusters von vier Akteur:innen. Das Zusammenspiel von Raum und Zeit werden hier auf strengste Art vor Augen geführt. Mit farbigen Kapuzen kenntlich wie unkenntlich gemacht, vollziehen sie ein unerbittliches Closed-circuit-Drama: Einmal in das Quadrat eingetreten, sind sie dazu verdammt, die jeweils sechs Schritte der Längs- und Diagonallinien des Quadrats monoton und synchron abzulaufen, begleitet von verschiedenen Schlagzeugrhythmen: Akteur:in 1: AC, CB, BA, AD, DB, BC, CD, DA; Akteurin 2: BA, AD, DB, BC, CD, DA, AC, CB; Akteurin 3: CD, DA, AC, CB, BA, AD, DB, BC; Akteurin 4: DB, BC, CD, DA, AC, CB, BA, AD. Die mit einem Punkt markierte Mitte des Quadrats wird immer links umgangen. Die mathematische Präzision der Choreografie wird durch ein exaktes Timing ermöglicht, eine Automatisierung der Abläufe, ein fast schon maschinenartiger Zustand der Akteur:innen. Die Variation der Choreografie ist beschränkt auf die Anzahl der Akteur:innen und die dadurch wechselnden Farbkonstellationen.
Musica Mosaica konzentriert sich auf die Komposition nach vordefinierten Prinzipien und Zwängen, die auf einem streng approximativen Verständnis von musikalischen Grundlagen wie Rhythmen, Intervallen und Noten basieren. Nachdem sie jahrelang hauptsächlich improvisierte Musik in verschiedenen Projekten (Buffle, Humus, Saule) gespielt haben, übertragen die in Brüssel lebenden Xavier García Bardón und Emmanuel Gonay ihren intuitiven Ansatz nun auf den Bereich des Schreibens. Auf der Suche nach Flächigkeit und Perspektive formulieren sie Regeln, erlauben sich aber, diese zu umgehen. Sie sammeln Klänge und Bilder aus verschiedenen Quellen und wenden unterschiedliche Protokolle an, um eine abweichende Perspektive zu schaffen, die von Filmschnitt und Geometrie geprägt ist.
Gavsborg produziert seit über zehn Jahren Musik mit dem Label Equiknoxx Music. Das gleichnamige jamaikanische Ensemble paart klassische Dub- und Soundsystem-Techniken mit genre-untypisch gebrochenen Beats und genre-untypischen, eklektizistischen Samples, man hört knisternde Tüten oder blökende Hörner, quakende Enten oder kiebig krächzendes Raubvogelvieh. Seine Vielseitigkeit und unkonventionelle musikalische Herangehensweise ermöglichte es Gavsborg, mit einer Vielzahl unterschiedlicher Künstler:innen und Labels wie Mavado, Aidonia, Dirty Projectors, Palmistry, Addis Pablo, De La Ghetto, Busy Signal, Spice, Missy Elliott, DDS, Swing Ting oder Domino Records zusammenzuarbeiten. Zur Eröffnung von ton not. not ton spielt Gavsborg eine Solo Live Set, das auf seiner experimentellen EP Jamaican Drum Machine basiert. Diese nimmt nicht etwa auf eine bestimmte Maschine oder ein Instrument Bezug, sondern handelt vielmehr von dem Gefühl, das ihm Jamaika vermittelt.
Kurator:innen:
Nguyen Phuong-Dan studierte Kulturanthropologie an der Universität Hamburg sowie Visuelle Kommunikation an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfbK). Er arbeitet projektbezogen in unterschiedlichen Bereichen. Unter anderem entstand in Zusammenarbeit mit Stefan Canham das Fotobuch Die Deutschen Vietnamesen und gemeinsam mit Philip Widmann der szenische Dokumentarfilm Ein Haus in Ninh Hoa. In Kooperation mit dem Kunstverein Harburger Bahnhof in Hamburg initiierte er das Projekt One Hundred People Say Umbrella (2015), das sich mit auditiven Publikationen im Kontext der bildenden Kunst beschäftigte. Kuratorisch war er zudem unter anderem an den Veranstaltungen Immersion (Gropius Bau, Berlin), Music From High Wires (Kampnagel, Hamburg), Intonal Festival (Inkonst, Malmö) und Possible Musics (Palais de la Porte Dorée, Paris) beteiligt. Unter dem Namen Phuong-Dan ist er international als DJ tätig und veranstaltet seit 2003 eine eigene Clubreihe im Golden Pudel Club in Hamburg. Anfang 2021 gründete er dispari – ein Label und eine Plattform für auditive Publikationen und Performances an wechselnden Orten.
Merle Radtke ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Kuratorin und Autorin. Sie war als Kuratorin u. a. für die Hamburger Kunsthalle und das Kunstmuseum Stuttgart tätig. Von 2015 bis 2017 war sie Mitglied des Graduiertenkollegs Ästhetiken des Virtuellen an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg (HfbK). Als Stipendiatin der Villa Kamogawa/Goethe-Institut Kyoto folgte ein mehrmonatiger Forschungsaufenthalt. Regelmäßig veröffentlicht sie Texte zu zeitgenössischer Kunst und Kultur. Schwerpunkte ihrer Arbeit stellen die Praxis und Theorie des Internets, die (post-) digitale Kunstpraxis, der Feminismus und die Auseinandersetzung mit der Simulation dar. Seit Juli 2018 leitet sie die Kunsthalle Münster.
Kooperation: Eine Zusammenarbeit der Kunsthalle Münster mit dispari – ein Label und eine Plattform für auditive Publikationen und Performances an wechselnden Orten, initiiert und betrieben von Nguyen Phuong-Dan.
Mit Lisa Alvarado, Samuel Beckett, Gavsborg, Channa Horwitz, Anja Kreysing und Musica Mosaica bringt auch die zweite Ausgabe von ton not. not ton Beiträge bildender Künstler:innen und Musiker:innen zusammen, versammelt Personen, die sich an den Grenzen der jeweiligen Bereiche bewegen. Die erste Ausgabe von ton not. not ton fand im Herbst 2021 mit Beiträgen von Florian Bräunlich, Gerrit Frohne-Brinkmann, Sven-Åke Johansson, Museum of No Art, Tomoko Sauvage, Saskia Senge, Gesa Troch und Hannah Weinberger.
WO?
Kunsthalle Münster
Hafenweg 28
48155 Münster
WANN?
Ausstellungstage:
Samstag, 06. Mai – Sonntag, 04. Juni 2023
Öffnungszeiten:
Di – So 12 – 18 Uhr