Oliver Thies künstlerisches Vorgehen beruht meist auf einer detaillierten Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Visualisierungstechniken. Seine von ihm selbst so genannte „Zeichnerische Forschung“ befasst sich unter anderem mit mikroskopisch kleinen Organismen.
Abb. oben: Oliver Thie, „Dirt or what doesn’t belong to the animal“, 2015/21, ink on film, 220×20 cm
Seit einem Forschungsaufenthalt im Museum für Naturkunde Berlin (2014–2016) widmet sich Thie der nur 3 mm großen Hawaiianischen Höhlenzikade. Deren wissenschaftlicher Name Oliarus polyphemus dient auch als Überschrift für Thies mittlerweile elf „Zeichnerische Expeditionen“ zu dem winzigen Insekt. Grundlage all dieser Annäherungen sind Hunderte von Detailansichten, die Thie mit einem Rasterelektronenmikroskop aufnahm. Die Einzelaufnahmen setzte er zu einer Collage zusammen, die das Insekt in eintausendfacher Vergrößerung erscheinen lässt. Dieses monumentale Mikroskopbild dient ihm seitdem als Ausgangspunkt für Übersetzungen in zeichnerische Strukturen, wobei unterschiedliche Stilmittel und Zeichengeräte zum Einsatz kommen. Das auf den Aufnahmen Sichtbare wird dabei immer wieder neu interpretiert. So überlässt Thie der Wissenschaft hier nicht die alleinige Deutungshoheit.
Wenn er das, was das Elektronenmikroskop oder andere Visualisierungstechniken sichtbar machen, zeichnerisch interpretiert, weist er immer wieder auf blinde Flecken der wissenschaftlichen Forschung hin. Dies ist dann weniger eine Kritik an ihr als der Versuch, ihr mit künstlerischen Mitteln alternative Sichtweisen gegenüberzustellen.
m Treppenhaus des HAUNT ist erstmals die Umsetzung einer Expedition zu sehen, deren „Reiseziel“ ein Sinnesorgan ist, das knollenförmig aus der Oberfläche der Zikade heraussteht. Hierbei handelt es sich um die Antenne des blinden Tieres. Konnte Thie bei den meisten anderen Partien von der flächigen Projektion des Mikroskops ausgehen, bleiben bei diesem Organ Teile der Oberfläche aufgrund seiner Wölbung unsichtbar. Thies Untersuchung konzentriert sich auf sternförmige Gebilde, mutmaßlich Rezeptoren für die Geruchswahrnehmung. Ihre ineinander verzahnte Struktur, die sich eigentlich um das Organ herumzieht, wird wie der Globus zur Karte aufgeklappt. Die Wandzeichnung verbindet Rundumansichten zu einer Fläche, die sich wiederum mit den architektonischen Gegebenheiten verzerrt.
Im Flur finden sich dann Zeichnungen aus verschiedenen Expeditionen, die sich jeweils einzelnen Ausschnitten der Anatomie widmen und auf der in gleichmäßige Quadranten unterteilten, vergrößerten Zikadenoberfläche beruhen.
In dem kleineren Ausstellungsraum sind unterschiedliche Skizzen und Notizhefte präsentiert. Die Skizzen sind Studienzeichnungen, mit denen sich Thie dem Tier angenähert, einzelne Aspekte seiner Oberfläche und Anatomie analysiert und darstellerische Mittel getestet hat. Auch eine Filmdokumentation über Thies Forschungsarbeit im Museum für Naturkunde öffnet gleichsam das „Nähkästchen“ seiner Zeichnerischen Forschung.
Auf der im größeren Ausstellungsraum gezeigten zehnten Expedition, Topographie des Übersehenen, 2021–22, umfasst die Zeichnung erstmals das gesamte Insekt. Thie konzentriert sich hier auf kleine, weiße Strukturen, Krümel, Brocken und Flusen, die auf dem Panzer des Sechsfüßlers liegen. Diese werden, wie die Insektenforscherin Hannelore Hoch in dem gezeigten Film äußert, von den Wissenschaftler*innen in der Regel nicht beachtet, wenn sie bei der Untersuchung der Oberfläche der Tiere diese „optisch reinigen.“
Samstag, 05.11.2022 ab 17 Uhr – Panel Discussion
Mit dem Bleistift sehen – Zeichnen als Erkenntnismethode Wissen in der naturwissenschaftlichen und künstlerischen Forschung Kathrin Mira Amelung (Kultur- und Medienwissenschaftlerin), Andreas Wessel (Biologe), Felix Sattler (Kurator des Tieranatomisches Theater Berlin) und Oliver Thie.
WANN?
Daten: Samstag, 8. Oktober 2022 bis Samstag, 5. November 2022
WO?
frontviews at HAUNT
Kluckstraße 23 A
10785 Berlin